Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Mila, meine Eltern, hatten den Kampf um ihr Zusammensein gewonnen, gegen die schlimmsten Widrigkeiten, die ihre Zeit gegen sie aufbieten konnte. Dies war ihr Augenblick. Der Augenblick, den ich mir als ihren kühnsten und besten vorstelle; zwei junge Menschen gegen den Rest der Welt, ihre alles besiegende Liebe, endlich allein und zusammen; und die Welt, die keine Mühe gescheut hatte, sie außeneinanderzutreiben, blieb endlich außen vor.
14
Krise
Er wurde in diesem Land geboren,
in dem alles gegeben wird, um wieder genommen zu werden.
Albert Camus
Wenn ich heute an Moskau denke – wenn jemand die Stadt im Radio erwähnt oder ich sie als Ortsmarke in einem Zeitungsartikel lese –, beschwört das immer ein Bild der Wildnis herauf, von Trümmern aufgezehrter Energie. Ich verließ die Stadt, nachdem die große Blase der Neunzigerjahre geplatzt und der Kater am schlimmsten war. Das Pendel hing am tiefsten Punkt auf dem Weg zwischen dem Rausch des ungebremsten Kapitalismus und dem, was sich als tiefe Sehnsucht nach Autorität und Ordnung entpuppen sollte.
Das unbändige, aber freie Russland, das Boris Jelzin erschaffen hatte, kam im Sommer 1998 ins Wanken. Ich war inzwischen Korrespondent für das Magazin Newsweek und arbeitete ganz anders als vorher bei der Moscow Times . Anstatt die Stadt nach Geschichten aus der Unterwelt zu durchforsten, wurde ich in einem blauen Volvo von der Duma ins Ministerium gefahren und schrieb kluge und unerträglich geschliffene Artikel über die hohe Politik.
In meiner neuen Position hatte ich einen direkten Blick auf die Auflösung der alten Ordnung. Auf den makellos mit Teppichen ausgelegten Fluren des Weißen Hauses, dem Sitz der russischen Regierung, wuchs die Nervosität. Der Vizeministerpräsident Boris Nemzow, Russlands führender Reformer, bestand darauf, dass alles gut werden würde, und kritzelte zum Beweis auf meinem Notizblock. Finanzminister Boris Fjodorow, der schwergewichtige Rabauke der Reformer, schwatzte mit manischer Energie von der Unumkehrbarkeit der Reformen Russlands. Doch in allen Regierungsbüros, die ich besuchte, empfingen mich starres Lächeln und aufgesetzte Zuversicht. Alle fürchteten insgeheim, dass irgendwann, sehr bald, das ganze verrottete Gebilde in sich zusammenbrechen würde. Die Zeit der Abrechnung war nahe, nach jahrelangem Ausverkauf von Unternehmen, Veruntreuung und Diebstahl, entfesselt von den neuen Herren des Landes. Und wenn sie käme, würde sie verheerend sein.
Die ersten Anzeichen des nahenden Endes erschienen in Moskau, als Bergarbeiter aus dem ganzen Land einen Streikposten vor dem Weißen Haus aufstellten und in die Duma eindrangen, mit ihren Helmen auf die Bürgersteige der Hauptstadt und die Marmorgeländer des Parlaments schlugen. Aus dem Inneren des Weißen Hauses war stündlich der dumpfe Trommelwirbel zu hören. Es klang wie ferner Donner hinter den getönten Schweizer Fenstern.
In Sankt Petersburg kam Jelzin aus dem Krankenhaus, um die sterblichen Überreste des letzten Zaren und seiner Familie zu begraben, die 1918 von bolschewistischen Revolutionären ermordet worden waren. Ich schlich mich mit einer Gruppe um die Romanows Trauernder in die Peter-und-Paul-Kathedrale. Herein durfte ich nur, weil ich als Einziger unter den anwesenden Journalisten daran gedacht hatte, einen schwarzen Anzug und Krawatte zu tragen. Als der winzige Sarg mit den Gebeinen der Familie zum Altar gebracht wurde, kam einen Augenblick lang Pathos auf. Jelzin, hölzern und leicht schwankend, intonierte eine Rede, in der er behauptete, Russland sei mit seiner Vergangenheit ins Reine gekommen. Ich war immer ein glühender Bewunderer Jelzins gewesen, doch nun wirkte er wie eine tragische Figur, ein torkelnder Bär von einem Mann, der sich im Geflecht der Korruption verloren hatte und nun ebenso fassungslos wie sein Volk war angesichts der übermenschlichen Kräfte des Kapitalismus, den er entfesselt hatte. Die Parallelen zwischen den Fehlern, die zum elenden Tod des letzten russischen Monarchen geführt hatten, und den seismischen Erschütterungen, die sich unter Jelzins Regierung aufbauten, wurden schmerzlich deutlich.
Moskaus Nachtleben nahm eine seltsame Intensität an. Wie Klapperschlangen, die tief im Inneren der Erde sich anbahnende Erdbeben spüren, wurden die Partymenschen wie von einem Rausch erfasst. Wo auch immer sich die dem Untergang geweihten Reichen versammelten, im Galereja, im Jazz-Café, im Titanic, konnte man aus dem Augenwinkel
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