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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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USA flüchtete. »Sie hat Millionen Leben gefordert … aber wir haben den Krieg gewonnen.«

    Bibikow muss den Hunger ebenfalls gesehen haben – die verhärmten Gesichter, die aufgedunsenen Bäuche und die leeren Augen. Er war oft in seinem schwarzen Packard in Angelegenheiten der Partei und der Fabrik unterwegs, oder er reiste erster Klasse mit der Bahn, mit Wächtern auf den Gängen. Er muss gewusst haben, dass spezielle Lastwagen auf geheimen Befehl der kommunalen Behörden nachts die Städte der Ukraine patrouillierten und die Leichen der Bauern einsammelten, die aus den Dörfern herbeigekrochen waren. Viele müssen es bis an die stacheldrahtbewehrten Grenzen des ChTS am Rande der Stadt geschafft haben. Doch morgens war für die, die nicht sehen wollten, keine Spur des allgegenwärtigen Grauens mehr vorhanden. George Bernard Shaw erklärte nach einer sorgfältig inszenierten Tour durch die Ukraine im Jahr 1932, dass er »in ganz Russland keinen einzigen unterernährten Menschen gesehen habe«. Walter Duranty, der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Korrespondent der New York Times , tat Berichte über die Hungersnot als antisowjetische Propaganda ab. Für die Partei waren hungernde Bauern nur ein Abfallprodukt der Revolution, die zu ignorieren waren, bis sie pflichtgemäß starben – und dann vergessen wurden. Die Parteiführer wollten, dass die Welt nur die glänzenden Errungenschaften sah, nicht den Preis, der dafür bezahlt wurde.

    Bibikow sorgte dafür, dass seine Familie von alldem nichts erfuhr. Wenn Lenina an diese Jahre in Charkow denkt, erinnert sie sich an Basare voller Obst und Gemüse und daran, wie ihr Vater mit Würstchen aus der Fabrikkantine und Schachteln voller Süßigkeiten für die Kinder nach Hause kam. Ihr fehlte es an nichts. Was Bibikow wohl dachte, wenn er in der Abenddämmerung die in Papier eingeschlagenen Würste in seine Aktentasche packte, ehe mit der Nacht die verhungernden, verzweifelten Wanderer kamen? Er dachte, da bin ich mir ganz sicher: »Gott sei Dank trifft es sie und nicht uns.«
    Die Erschütterungen der Kollektivierung zwei Jahre zuvor konnten noch als Krieg gegen die Klassenfeinde der Revolution, die Kulaken, erklärt werden. Doch nun waren diese Feinde vernichtet und die Kolchosen der Zukunft etabliert. Selbst wer völlig von der Ideologie verblendet war, musste erkennen, dass der Arbeiter-und-Bauern-Staat es mit schmerzlicher Offensichtlichkeit nicht schaffte, sein eigenes Volk zu ernähren. Außerdem war es trotz aller glorreichen Errungenschaften der Industrialisierung klar, dass der sozialistische Traum mehr und mehr durch Zwang aufrecht erhalten wurde. Bereits im Oktober 1930 untersagte ein Gesetz die Freizügigkeit der Arbeit und kettete so die Bauern an ihr Land und die Arbeiter an ihre Fabriken, nicht anders als in den Tagen der Leibeigenschaft. Im Dezember 1932 wurden interne Pässe eingeführt, um den Exodus der Verhungernden in die Städte einzudämmen.

    Bibikow muss gewusst haben, dass der Traum zum Albtraum wurde. Macht ihn seine Entscheidung, weiter an den Sozialismus zu glauben, zum Zyniker? Schwer zu sagen, denn er hatte kaum eine andere Wahl, als der Parteilinie zu folgen. Die Alternative wäre gewesen, sich den Verhungernden anzuschließen, wenn nicht Schlimmeres. Und doch war er sicher intelligent genug, die furchtbaren Risse zu erkennen, die sich in dem Paradies auftaten, für das er sein ganzes Erwachsenenleben gekämpft hatte.
    Vielleicht überzeugte er sich, wie so viele seiner Generation, von der größten aller Irrlehren des 20. Jahrhunderts: dass im Herzen eines Dieners der höheren Menschlichkeit kein Platz für bürgerliche Sentimentalitäten sei. Vielleicht glaubte er, dass die Partei letztendlich aus all dem Chaos eine schöne neue Welt erschaffen würde. Oder vielleicht redete er sich ein, weniger selbstgerecht, seine Pflicht bestünde darin, mit allen Mitteln die Rückständigkeit Russlands mit ihren Hungersnöten und der zermürbenden Armut zu überwinden, indem er dabei half, eine moderne Industrienation aufzubauen. Am wahrscheinlichsten ist jedoch eine menschlichere Erklärung: Es war sehr viel leichter, die eigenen Mythen zu leben und weiter an die ultimative Weisheit der Partei zu glauben, als seine Meinung zu äußern und eine Katastrophe zu riskieren.
    Und doch scheint das von der Hungersnot verwüstete Land, das Bibikow im Winter 1931/32 erlebte, ihn tiefgreifend verändert zu haben. Die Partei hatte immer recht, ja –

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