Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
aber die Praktiken der Partei könnten zumindest gemildert werden. Wie viele Parteiführer in der Ukraine, die die Schrecken, die Stalins harte Linie hervorbrachte, aus erster Hand erlebt hatten, war Bibikow überzeugt, dass Stalins Herrschaft gemäßigt werden musste, um weitere Katastrophen abzuwenden. Die Gelegenheit, seine Meinung zu sagen, bot sich ihm 18 Monate später, kurz vor der Geburt seiner zweiten Tochter, meiner Mutter, Ljudmila Borissowna Bibikowa.
* Kommunistischer Jugendverband.
** Kulak: wohlhabender Bauer.
3
Tod eines Parteigenossen
Es war vor langer Zeit, und es ist nie geschehen.
Jewgenija Ginsburg
In den ersten Januartagen des Jahres 1934 ließ Bibikow seine hochschwangere Frau zu Hause zurück und reiste mit einigen Fabrikverwaltern in einem Sonderzug nach Moskau, um dort als Beobachter von Amts wegen am 17. Parteitag der KPdSU teilzunehmen. Da er mit Marta nie über Politik sprach, hatte sie keine Ahnung, dass ihr Ehemann offenen Ungehorsam plante, der ihn letztlich das Leben kosten sollte.
Der Parteitag war als »Parteitag der Sieger« angekündigt worden, zur Feier des Sieges der Kollektivierung, der triumphalen Erfüllung des ersten Fünfjahrplans und der Konsolidierung der Revolution. Doch trotz der offiziellen Lobreden auf den Erfolg der Partei war die Basis erschöpft. Bibikow war, wie viele andere auch, der Überzeugung, die Hungersnot, die einen großen Teil Südrusslands weiter im Griff hatte, müsse beendet werden. Der Fünfjahresplan war erfüllt worden, doch die Männer und Frauen der Basis, die eher Verwalter als Ideologen waren, sahen mit eigenen Augen, dass das wahnsinnige Tempo der Veränderung nicht aufrechterhalten werden konnte. Doch Stalin, der Heißsporn am Schreibtisch, forderte höhere Produktivität, höhere Erträge und mehr Nachdruck bei der Kollektivierung – trotz der offenkundig katastrophalen Folgen.
Auf dem Parteitag kam es zu keinem offenen Dissens. Doch es wurde viel darüber gesprochen, Stalin aus der Machtposition zu drängen, zu der er den bisher unbedeutenden Posten des Generalsekretärs ausgebaut hatte, und ihn durch den moderateren Sergei Kirow zu ersetzen. Kirow, Erster Sekretär der Leningrader Parteiorganisation, war zu jenem Zeitpunkt Stalin mehr als gewachsen. Er war ein Bürgerkriegsheld und enger Verbündeter Lenins gewesen und der größte Redner der Partei seit Leo Trotzki.
Bibikow und viele seiner Kollegen aus der Ukraine wurden ermutigt durch den scheinbaren Geist der Offenheit auf dem Parteitag, durch das Gefühl, teilzunehmen an einer ideologischen Debatte unter Gleichgestellten über die Zukunft des großen Experiments, an dem sie gemeinsam arbeiteten. Sie standen voll und ganz hinter Kirows Plan, das Tempo zu drosseln. Das sollte sich als fataler Fehler erweisen. Für Stalins damals bereits paranoides Hirn war Kirows Versuch, das unerbittliche Tempo der Kollektivierung zu reduzieren, eine unverzeihliche Beleidigung und ein Angriff auf seine ideologische Führung der Revolution. Stalin vergaß nicht, wer wie wählte, auch wenn seine Rache erst vier Jahre später begann. Von den 1966 Abgeordneten des 17. Parteitags sollten 1108 im Zuge der Säuberungen sterben. Der Parteitag endete mit den inzwischen üblichen stehenden Ovationen und Aufrufen zu noch größeren Triumphen in der Zukunft. Bibikow stand auf und applaudierte wie alle anderen Stalin und dem Politbüro. Doch das Ergebnis war politisch uneindeutig. Kirow hatte sich geweigert, Stalin offen herauszufordern. Doch es war klar, dass Stalin noch nicht der unangefochtene Meister der Partei war. Die angeblich so offene Debatte über die Zukunft der Partei sollte sich erst wieder unter Michail Gorbatschow wiederholen und die Partei dann für immer zerfallen.
Bibikows zweite Tochter Ljudmila kam am 27. Januar 1934 zur Welt, kurz nach der Rückkehr ihres Vaters vom Parteitag. Er hatte seine erste Tochter nach Lenin benannt, doch die zweite nannte er bewusst nicht Stalina, wie einige Speichellecker es bereits getan hatten.
Die Jahre vergingen in stürmischer Arbeit an der Fabrik. Nichts deutete auf die politische Apokalypse hin, die Stalin insgeheim plante. Doch am Abend des 2. Dezember 1934, erinnert sich Lenina, kam ihr Vater tränenüberströmt von der Arbeit nach Hause. Er warf sich auf das Ledersofa im Wohnzimmer und saß dort lange Zeit reglos, den Kopf in den Händen.
»My propali « , sagte Bibikow leise zu seiner Frau. »Wir sind verloren.«
Lenina fragte ihre
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