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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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andere wundersame Taten wurden auf den stengasety veröffentlicht, den Wandzeitungen, die in der ganzen Fabrik aufgehängt wurden. Wer nachlässig war, wurde dagegen von seinen Kollegen angezeigt: »Ich, Betongießer der Kusmenko-Gruppe, war wegen der Inkompetenz von X drei Stunden untätig«, stand in einer öffentlichen Anzeige auf einer stengaseta Ende 1930. »Ich fordere, dass die Heldenarbeiter unserer Gruppe aus seiner Tasche für diese verlorenen Stunden bezahlt werden.«
    Doch trotz dieser Schmeicheleien blieben die Arbeiten hinter dem Zeitplan zurück. Im Oktober 1930 rückte der 13. Jahrestag der Revolution näher und der Fertigstellungstermin der Fabrik drohte. Auf Anregung von Bibikows Parteiausschuss organisierten Vorarbeiter »Sturmnächte« der Arbeit, in denen Gruppen von Arbeitern zu den Klängen von Blasorchestern miteinander um die Wette arbeiteten.
    Die Arbeiter und die Verwaltung der Fabrik waren bald wie besessen von diesen Wettkämpfen, in Einklang mit einer nationalen Zeitungskampagne, die ausführlich über diese wundersamen (und zunehmend seltsamen) Heldentaten berichtete. Eines der Leitmotive der endlosen Berichterstattung der Prawda wurde es, Ausländer zu begeistern und ihre Vorhersagen zu widerlegen. Um nicht überflügelt zu werden, stellte das ChTS bald seine eigenen Rekorde auf:
    »Die [Arbeiter] widerlegten auch die Berechnungen ausländischer Experten zur Produktivität des Kaiser-Betonmischers«, dokumentiert die Geschichte des ChTS stolz. »Professor Zailiger behauptete beispielsweise, die Maschine könne nicht mehr als 240 Mischungen Beton in einer Acht-Stunden-Schicht produzieren. Doch die Kommunisten des Traktorenwerks beschlossen, die Norm überzuerfüllen.« 400 Männer kommen zur Schicht und produzieren heldenhaft 250 Mischungen. »Ausländische Experten und ihre Theorien sind für uns nicht Gesetz«, prahlte Vorarbeiter G. B. Marsunin dem Journalisten der Temp gegenüber.
    Das Blasorchester der Fabrik spielte nun die ganze Nacht, jede Nacht, schallte durch die Maschinenhalle und übertönte den Lärm der sechs Kaiser-Betonmischer des ChTS. Die Vorarbeiter eilten hin und her und feuerten ihre Männer zur Arbeit an. Im Laufe der folgenden Monate wurden neue Rekorde aufgestellt – erst 360, dann 452 Mischungen. Betongießer aus der ganzen Sowjetunion kamen in Charkow zusammen, um die erstaunlichen Rekorde des ChTS zu feiern. Der ausländische Betonmischungsexperte, der mysteriöse Professor Zailiger selbst, reiste aus Österreich an und schaute erstaunt zu. »Ja, ihr könnt arbeiten, das ist eine Tatsache«, zitiert ihn die Temp .
    Auch unter den Maurern waren Wunderkinder. Arkadi Mikunis, ein junger Enthusiast aus dem Komsomol, blieb nach der Arbeit länger, um den erfahrenen Maurern zuzusehen, und las in seiner Freizeit Spezialmagazine für Maurer. Sehr bald war er so gut wie seine Lehrer mit ihrer Norm von 800 Ziegelsteinen pro Schicht. In einer eigens organisierten »Sturmnacht« vermauerte Mikunis in einer einzigen Schicht 4700 Ziegelsteine. »Mehr«, dokumentiert die Temp stolz, »als selbst Amerika.« Auf einem von der Fabrik bezahlten Urlaub in Kiew wurde er eingeladen, den örtlichen Maurern seine Künste vorzuführen, und vermauerte 6800 Ziegelsteine. Die Nachricht verbreitete sich in der gesamten Maurerwelt, und ein deutscher Meister kam eigens aus Hamburg, um das Wunder selbst zu sehen. Nach einer halben Schicht gab er den Wettkampf gegen Mikunis auf. Und Mikunis hörte trotzdem nicht auf. Sein Rekord stieg auf 11 780 Ziegelsteine an einem Tag, das fast schon unmögliche Dreifache des vorherigen Weltrekords. Für seine wundersamen Fähigkeiten im Schnellmauern – mit einer Rate von einem Ziegelstein alle vier Sekunden über zwölf Stunden – wurde Mikunis mit dem Leninorden ausgezeichnet.
    Als sei das Aufstellen neuer Rekorde nicht genug, gründete Bibikow auch noch Abendkurse, um das Niveau des sozialistische Bewusstseins der Arbeiterschaft der Fabrik zu heben. Im Frühjahr 1931 besuchten die meisten der Arbeiter, die ein Jahr zuvor noch hungerleidende Bauern gewesen waren und Lehm gestochen hatten, Abendkurse, um sich als Maschinisten und Ingenieure zu qualifizieren. Nach Schichtende stürmten alle zur Kantine und zu den Waschräumen, um anschließend rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. 500 glückliche Arbeiter wurden sogar nach Stalingrad und Leningrad geschickt, um dort zu lernen, wie man die neuen Spezialmaschinen bedient, die dort in den

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