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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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schmiedeeisernen Schlitten, den ihr alter Nachbar in Charkow für sie gebaut hatte. Scharen von Kindern beobachteten neiderfüllt dieses Wunder auf den steilen Befestigungswällen des Kremls, die sich perfekt zum Rodeln eigneten. Im Sommer fertigte Marta den Mädchen nach Moskauer Modezeichnungen schicke weiße Glockenhüte und nähte ihnen Kleider aus bedruckter Importbaumwolle. Passend zu ihrem neuen Status als Ehefrau der Elite nannte sie sich nun Mara, weil sie fand, Marta klinge zu bäuerlich – ein seltsam verdrehter sozialer Snobismus im Land der Diktatur des Proletariats. Bibikow arbeitete so besessen wie immer, doch er verbrachte mehr Zeit in seiner Küche, wo er mit Parteigenossen plauderte – aber niemals trank. Er kaufte Marta und Lenina Abonnements für das neu erbaute Theater, doch er selbst ging nie hin, weil er jeden Abend bis neun Uhr arbeitete, und da war die Vorstellung fast schon zu Ende.
    Lenina war nie so glücklich gewesen wie in jenen Tagen des geheimen Bündnisses mit ihrem geliebten Vater. »Ich sehe es jetzt ganz deutlich«, erzählte sie mir fast ein Leben später. »Ich sehe es wie einen Traum. Schwer zu glauben, dass es wirklich geschehen ist.«
    Bibikow entspannte sich so weit, dass er sogar zu flirten begann – oder zumindest offener zu flirten. Lenina erinnert sich, wie Marta ihn in der Küche anschreit und wegen seiner verschiedenen Geliebten ausschimpft. Zu jener Zeit, im Januar 1936, mussten alle Parteimitglieder ihre Parteidokumente neu ausstellen lassen, damit unwürdige Elemente eliminiert werden konnten. Damals entstand das Porträt von ihm im Parteirock, das wir heute noch haben. Vielleicht verrät sein grimmiges Gesicht auch eine Spur Selbstgefälligkeit.
    Doch hinter der äußerlichen Normalität des ukrainischen Kleinstadtlebens trieb das Land in den Wahnsinn. Der NKWD, jetzt unter Führung des skrupellosen und sadistischen Nikolai Jeschow, bereitete einen weiteren Bürgerkrieg vor. Dieses Mal richtete er sich nicht gegen die »Weißen« oder die Bauern, sondern gegen den tückischsten Feind überhaupt: die Verräter in den eigenen Reihen der Partei.
    Zuerst waren die alten Bolschewiken dran, deren Ansehen und moralische Autorität Stalins Position bedrohen konnten. Lew Kamanew und Grigori Sinowjew, beide Mitglieder in Lenins erstem Politbüro, wurden im August 1936 in einem Schauprozess angeklagt und gestanden, schikaniert durch den hysterischen Generalstaatsanwalt Andrei Wyschinski, imperialistische Spione zu sein. »Schädlingen« oder Oberingenieuren, bezichtigt der Sabotage der Industrialisierung, wurde ebenfalls öffentlich der Prozess gemacht. Sie gestanden, Mitglieder einer konterrevolutionären Organisation zu sein, die den Triumph des Sozialismus mit allen Mitteln zu verhindern suchten. Stalins Rivale Leo Trotzki, der Kopf der angeblichen konterrevolutionären Bewegung, war bereits ins Exil auf die Insel Büyükada bei Istanbul geflohen. Das Vokabular und die Taktiken der kommenden Großen Säuberung wurden geprobt und verfeinert.
    Bis 1937 blieb die Ukraine noch einigermaßen verschont von den Schauprozessen, die die Moskauer Elite der Armee, Intelligenzija und Regierung dezimierten. Doch dann sollte es gerade die Ukraine sein – für Stalin die Brutstätte des Trotzkismus und potenzieller Opposition –, die die volle Wucht seines Zornes zu spüren bekam, als er schließlich die Macht des Sicherheitsapparats entfesselte, den er so sorgfältig aufgebaut hatte.
    Während des Februar-März-Plenums des ZK unternahmen Stalins Gegner einen zum Scheitern verurteilten letzten Versuch, gegen Stalins Machtmonopol zu protestieren. Direkt nach der Versammlung wurde ein Fünftel der ukrainischen Parteiführung ausgeschlossen. Bibikow, der die knappe Ankündigung in der Prawda las, muss befürchtet haben, dass noch Schlimmeres kommen würde. Ab dem Frühsommer wurden ihm nahestehende Kollegen vom NKWD zu Verhören einbestellt. Nur wenige kehrten zurück.
    Die Menschen zogen sich instinktiv zurück und hüllten sich in schützendes Schweigen, wie Fußgänger, die in einem Sommergewitter nach Hause eilen. Lenina bemerkte, wie sich die Atmosphäre plötzlich veränderte. Ihr Vater sah müde aus und hatte viel von seiner sonstigen Fröhlichkeit verloren. Das freundschaftliche Geplauder der Parteifrauen im Treppenhaus war zu einem nervösen Austausch von Nettigkeiten geworden. Bibikow war sicherlich erleichtert, als er im Juli 1937 seine Sommerreise ins Parteisanatorium

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