Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Doch der Staat verlangte nicht nur Getreide für die Menschen in den Städten, sondern auch für den Export gegen harte Währung, um ausländische Maschinen für Projekte wie das ChTS kaufen zu können. Sowjetische Ingenieure wurden in die USA und nach Deutschland geschickt, um mit Kofferraumladungen voller sowjetischem Gold Dampfhammer, Blechwalzmaschinen und Pressen zu kaufen – Gold, das mit dem Verkauf von Getreide zu Krisenpreisen verdient wurde. Der amerikanische Dampfhammer des ChTS, den sabotiert zu haben Bibikow später angeklagt wurde, kostete 40 000 Rubel in Gold, das entspricht fast 1000 Tonnen Weizen, genug, um eine Million Menschen drei Tage lang zu ernähren.
Im Oktober 1931 beschlagnahmte die sowjetische Regierung 7,7 Millionen Tonnen einer mageren Gesamternte von 18 Millionen Tonnen. Das meiste davon ging in die Städte, die Bastionen der sowjetischen Macht, doch zwei Millionen Tonnen wurden in den Westen exportiert. Die Folge war eine der größten Hungersnöte des Jahrhunderts.
Während der Enteignungen von 1929 und 1930 waren einzelne Dörfer regelrecht verhungert, wenn sie Widerstand gegen die Kommissare leisteten, die rigoros alle Lebensmittel konfisziert hatten, die sie finden konnten. Nun, mit Wintereinbruch 1931, grassierte der Hunger in der gesamten Ukraine und in Südrussland. Millionen Bauern wurden zu Flüchtlingen, strömten in die Städte und starben auf den Bürgersteigen von Kiew, Charkow, Lwow und Odessa. In den Zügen, die durch die Hungergebiete fuhren, wurden bewaffnete Wachen aufgestellt. Sie sollten verhindern, dass die Züge gestürmt wurden. Eines der schrecklichsten Bilder des russischen Jahrhunderts ist ein Foto hohlwangiger Bauern, die an einem Marktstand in der Ukraine zerstückelte Kinder als Fleisch verkaufen.
An den Grenzen der neuen riesigen Felder der Kolchosen standen zum Schutz vor Getreidedieben Wachtürme wie die in den Gulags. Ein Gesetz sah mindestens zehn Jahre Arbeitslager als Strafe für Getreidediebstahl vor. Ein Gericht in Charkow verurteilte in einem Monat 1500 Getreidesammler zum Tode. Die Wachtürme wurden mit Jungen Pionieren besetzt, Mitgliedern der kommunistischen Jugendorganisation für Kinder zwischen zehn und fünfzehn Jahren. Der 13-jährige Pawlik Morosow wurde 1932 zum Nationalhelden, als er seinen eigenen Vater bei den Behörden anzeigte, weil er Kulakeneigentum nicht an die örtliche Kolchose abgeliefert hatte. Der redselige Pawlik wurde anschließend, vielleicht nicht ganz zu Unrecht, von seinem Großvater umgebracht. Die Geschichte dieses jungen revolutionären Märtyrers wurde auf der Titelseite der Prawda veröffentlicht und inspirierte Bücher und Lieder über sein Heldentum.
»Das Elend war so unmenschlich, so unvorstellbar, die Katastrophe so furchtbar, dass es fast abstrakt schien. Es hatte keinen Raum innerhalb der Grenzen des Bewusstseins«, schrieb Boris Pasternak nach einer Reise in die Ukraine. Der junge ungarische Kommunist Arthur Koestler fand das »riesige Land in Schweigen gehüllt«. Der britische Sozialist Malcolm Muggeridge nahm den Zug nach Kiew und erlebte dort, wie die Bevölkerung verhungerte. »Ich meine, wirklich verhungerte, im absoluten Sinne, nicht nur hungerte«, schrieb er. Schlimmer noch, Muggeridge musste erleben, dass Getreidevorräte an die Soldaten ausgegeben wurden, die die verhungernden Bauern vom Revoltieren abhalten sollten. Verbittert verließ der idealistische Muggeridge die Sowjetunion, überzeugt, »eines der monströsesten Verbrechen der Geschichte« mit angesehen zu haben, »so furchtbar, dass die Menschen in Zukunft kaum glauben werden, dass es wirklich passiert ist«.
Selbst hartgesottene Revolutionäre wie Nikolai Bucharin vom Politbüro waren entsetzt. »Während der Revolution sah ich Dinge, die mit ansehen zu müssen ich nicht einmal meinen ärgsten Feinden wünschen würde. Doch 1919 kann nicht verglichen werden mit dem, was zwischen 1930 und 1932 geschah«, schrieb Bucharin, kurz bevor er 1938 im Zuge der Säuberungen erschossen wurde. »1919 kämpften wir um unser Leben … doch später waren wir verantwortlich für die Massentötung völlig wehrloser Männer und ihrer Frauen und Kinder.«
Die Hungersnot war nicht nur eine Katastrophe – sie war eine Waffe, die bewusst gegen die Bauern eingesetzt wurde. »Eine Hungersnot war nötig, um ihnen zu zeigen, wer hier das Sagen hat«, sagte ein älterer Parteifunktionär zu Wiktor Krawtschenko, einem Apparatschik, der 1949 in die
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