Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
ihren rasierten Kopf bedeckt, Ljudmila hält eine handgemachte Stoffpuppe mit Zöpfen, einem weißen Baumwollkleid und einem Hut im Arm. Lenina ist wunderschön, mit großen Augen, breiter Stirn und einem feinen Mund. Ljudmila, deren Kopf ebenfalls rasiert wurde und die eine gestrickte Weste über einem kragenlosen weißen Hemd trägt, sieht aus wie ein rundgesichtiger kleiner Junge, wie sie sich an ihre Schwester schmiegt. Leninas halbes Lächeln ist wehmütig und verstörend erwachsen. Beide Schwestern sehen gequält und ernst aus. Ihre Augen sind keine Kinderaugen. Das Foto steht auf meinem Schreibtisch. Obwohl es mir so vertraut ist, kann ich das Bild nicht ansehen, ohne dass es mich zutiefst berührt.
Im Morgengrauen ihres ersten Tages im Gefängnis fragten die Zellengenossen Lenina und Ljudmila aus, warum sie im Gefängnis seien. Es waren alles junge Mädchen, die meisten Diebinnen und Prostituierte. Als sie hörten, die Neuankömmlinge seien keine Kriminellen, sondern nur »Politische«, wie die Kinder von Volksfeinden genannt wurden, kniffen sie Lenina gemein und lachten sie aus, als sie schluchzte. Zwei Wärter, der eine mit einem bellenden Schäferhund, öffneten die Zellentür und befahlen Ruhe. Die Mädchen wurden in den Speisesaal getrieben, wo sie vor einem kleinen Fenster für einen Teller Suppe anstanden. Eines der älteren Mädchen schlug von unten gegen Leninas Schüssel, als sie vom Fenster kam, und die Suppe ergoss sich auf den Boden – ein Initiationsritus für die neuen Kinder. Lenina ging hungrig zurück in die Zelle. Ein paar Stunden später erschien ein Gefängnisarzt, diagnostizierte Masern bei Ljudmila und schickte sie sofort ins Gefängniskrankenhaus. Lenina blieb allein mit ihren Peinigerinnen zurück.
Nach ein paar Tagen durfte Lenina ihre Schwester während der täglichen Sportstunde besuchen. Sie hob jedes Stückchen Fleisch und jeden Zuckerwürfel auf, den sie retten konnte, nachdem die älteren Mädchen sich über ihr Essen hergemacht hatten, versteckte sie in ihrer Unterhose und gab sie Ljudmila, damit sie wieder zu Kräften kam. Manchmal kam ihre Tante Fjodossija mit kleinen Essenspaketen vorbei, die Lenina an einer Schnur durch das straßenseitige vergitterte Krankenhausfenster hereinholte. Mila erinnert sich noch an die Schnur und an die kleinen Pakete mit Essen. Sie erinnert sich auch, wie sie ausgeschimpft wurde, weil sie ins Bett gemacht hatte, und dass ihre Schwester Lenina die ganze Zeit weinte.
Ende Dezember, drei Wochen nach ihrer Verhaftung, wachte Lenina mitten in der Nacht auf. Die Zelle war voller Rauch. Die Zellentür ging auf, und ein panischer Wärter schickte die Kinder in den Hof. Ein paar der älteren Kinder hatten das Gebäude in Brand gesteckt, um von einem Fluchtversuch abzulenken. Die Wärter ließen die Hunde los, die nach den Kindern schnappten, als sie in den Hof gedrängt wurden. Die Kinder zitterten in der Kälte, als die Feuerwehr kam. Ljudmila war auch hinausgebracht worden und lag neben anderen aus dem Krankenhaus evakuierten Kindern auf einer Trage.
Das Gefängnis brannte die ganze Nacht. Bei Morgengrauen war es völlig ausgebrannt und nicht mehr zu benutzen. Die Kinder waren im Hof halb erfroren, immer noch bewacht. Ein Konvoi offener Lastwagen kam und brachte die Kinder in Gruppen von je zwanzig weg. Lenina und Ljudmila waren auf einem der letzten, der sich auf den Weg zu einem der ferneren Waisenhäuser der Region machte. Der Lastwagen fuhr fast den ganzen Tag nach Norden, durch Sturm und Schneeregen, auf der Ladefläche die hungrigen und durchgefrorenen Kinder. Endlich wurden sie in einem »Verteilungszentrum« für elternlose Kinder in Dnjepropetrowsk abgeladen. Lenina und Ljudmila waren blau vor Kälte und zitterten so unkontrolliert, dass sie nicht sprechen konnten. Sie wurden in eine große Halle getrieben, die schon voller Kinder von spanischen Republikanern waren, die in die Sowjetunion evakuiert worden waren, um sie vor dem Bürgerkrieg zu retten. Die spanischen Kinder, fern von zu Hause, weinten und warteten völlig verängstigt darauf, auf die örtlichen Waisenhäuser verteilt zu werden.
Ein abgespannter Funktionär erstellte eine Liste mit Namen und Alter der neu angekommenen Kinder. Er wies Ljudmila an, mit den anderen kleinen Kindern zu gehen. Lenina sollte beiseitetreten und warten, bis sie an der Reihe sei. Sie fiel auf die Knie, umklammerte die schweinsledernen Stiefel des Wächters und flehte ihn an, sie nicht von ihrer
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