Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
vergessen.
Georgi Iwanow
An einem warmen, nebligen Morgen im Sommer 1995 stand ich mit meinem Notizbuch in der Tasche in der Nowoslobodskajastraße vor dem Tor des Butyrka-Gefängnisses. Der Eingang befand sich eingezwängt zwischen einem Friseursalon und einem Laden; ich dachte erst, ich sei an die falsche Adresse geraten. Doch hinter dem düsteren Durchgang zwischen den tristen sowjetischen Gebäuden, die die Straße säumten, lag eine seltsame, verschlossene Welt. Die Butyrka ist eine gewaltige Festung – im wahrsten Sinne eine Festung, mit Türmen, Zinnen und einem Schwarm Krähen auf den Dächern, erbaut von Katharina der Großen für die zahlreichen Kriminellen ihrer Wahlheimat, unter ihnen der rebellische Bauer Jemeljan Pugatschow.
Draußen auf der Straße kündigte sich bereits ein weiterer staubiger Tag des heißen Moskauer Sommers an. Doch als wir durch einen kleinen Torbogen geführt wurden, wich die Junihitze plötzlich einem säuerlich-klammen Dunst, der sich auf meine Haut und Kleider legte wie fremder Schweiß. Selbst im Verwaltungstrakt war der metallische Geruch nach Sauerkraut, billigem Waschmittel und feuchten Kleidern vorherrschend.
Die Zelle, die ich besichtigte, war etwa 18 mal 4,5 Meter groß. Eine Woge Männergestank, ranziger Schweiß gemischt mit Urin, schwappte mir entgegen, als der Wärter die Tür öffnete. Zuerst dachte ich, die Gefangenen drängten sich zur Tür, um zu sehen, wer da gekommen war. Doch als ich in den Raum blickte, sah ich, dass die Insassen sich von der Tür bis zu dem verrammelten Fenster drängten, das ich am Ende der Zelle gerade so erkennen konnte. Es war wie in einem überfüllten U-Bahn-Wagen. Zwei Reihen Holzregale mit Bettzeug und Körpern zogen sich an den Wänden entlang. Reihenweise Füße mit schiefen Zehen ragten hervor. Im Freiraum in der Mitte stand ein Pulk Menschen, nackt bis auf die Unterwäsche, die sich gegen die Lagerstätten lehnten oder auf den Enden der Betten hockten. Manche spielten Karten, die meisten der zurückgelehnten Männer schliefen, die übrigen standen einfach da, bewegungsunfähig. Nasse Wäsche hing an Wäscheleinen, die provisorisch unter der Decke gespannt waren. In der Ecke stand eine winzige, überlaufende Toilette neben einem einzelnen Wasserhahn. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit waren so drückend, dass einem das Atmen schwerfiel, und der überwältigende Geruch nach zusammengedrängten Menschen ließ Übelkeit in mir aufsteigen.
Ich schob mich durch die Zelle, der Wärter beobachtete mich von der Tür aus. Später erklärte er mir, es sei ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Wärter nie die Zellen betraten, es sei denn, jemand liefe Amok oder es gäbe eine Messerstecherei.
In der Zelle waren 142 Männer. Sie hatten leere, tief liegende Augen. Ihre Beine und Körper waren übersät mit Flohbissen und offenen Wunden. Die Hälfte von ihnen hatte einen trockenen, tuberkulösen Husten und spuckte ausgiebig auf den schmierigen Boden. Es gab kein Tageslicht, das Fenster war verrammelt bis auf zwei winzige Öffnungen, durch die frische Luft hereinkam. Vier schwache Glühbirnen, die 16 Stunden am Tag brannten, erleuchteten den Raum.
Ich versuchte kurz, mit ein paar von ihnen zu reden, aber es war so unangenehm, mit einem Fremden in so unnatürlicher Nähe zu sprechen, Brust an Brust, dass mir nichts zu sagen einfiel. Weder damals noch später konnte ich die Gefangenen als Menschen sehen. Sie waren in eine andere Wirklichkeit übergegangen; sie waren zu etwas geworden, was weniger war als menschlich, zu etwas, was einer Herde Tiere näherkam. Selbst wenn sie herauskämen, stellte ich mir vor, würde es für immer ein Teil von ihnen bleiben. Ich dagegen war, selbst als ich mich zwischen sie schob, nur draußen und blickte hinein. Ich konnte mich mit ihnen kein bisschen mehr identifizieren als mit den räudigen Tieren in Moskaus traurigem altem Zoo. Niemals zuvor oder seither als Journalist in Russland spürte ich deutlicher, dass ich nur Besucher war.
Sie hatten die Gesichter von Männern, deren ganzes Leben in die wenigen Meter des stinkenden Raumes, den sie bewohnten, implodiert war. Sie starrten mich aus einer Entfernung von eineinhalb Zentimetern an, als ich mich an ihnen vorbeischob, aber als ich in ihre Augen sah, wusste ich, dass sie mich aus einer Entfernung ansahen, die ich niemals überwinden könnte.
Es gibt ein Foto von Ljudmila und Lenina, das irgendwann Anfang 1938 gemacht wurde. Lenina trägt ein Tuch, das
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