Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
und ihre Decken fielen zu Boden. Marta protestierte schreiend und packte den Offizier am Arm. Er stieß sie zurück, und sie stolperte mit ihrer dreijährigen Tochter im Arm in die offene Truhe. Lenina erinnert sich an das Geschrei – alle schrien, und ihre Mutter kämpfte sich mühsam aus der Truhe, eine groteske Farce inmitten dieses Albtraums. Die Männer vom NKWD zerrten Marta hoch, rissen ihr die Arme auf den Rücken und schafften sie, immer noch im Nachthemd, aus dem Haus in den Garten. Auf der Straße schoben sie sie in einen der beiden wartenden Polizeiautos – »Schwarze Raben« genannt. Ein weiterer Offizier folgte mit den beiden Kindern, Ljudmila unter dem Arm und Lenina an der Hand. Als sie zur Straße kamen, riss sich Lenina los und versuchte, zu ihrer Mutter zu rennen; der Mann fing sie ein und brachte sie zusammen mit ihrer Schwester in das zweite Auto. Als sie wegfuhren, hielt Lenina ihre fiebrige kleine Schwester umklammert, die hysterisch weinte. Am Ende der Straße fuhren die beiden Autos in verschiedene Richtungen. Die Mädchen sollten ihre Mutter erst elf Jahre später wiedersehen.
Mein Sohn Nikita ist, als ich diese Zeilen schreibe, genauso alt, wie Ljudmila bei Martas Verhaftung war – zwei Monate vor dem vierten Geburtstag. Er hat ein rundes Gesicht, einen dichten dunklen Haarschopf und die strahlend blauen Augen seiner Großmutter Ljudmila. Als wir Lenina vor ein paar Wochen besuchten, umarmte sie ihn so fest, dass er weinte; sie sagte, er sähe Ljudmila so ähnlich, dass sie es kaum ertragen konnte. »Ich wurde Mutter, als ich zwölf war, als sie Mutter wegbrachten«, sagte sie. »Ljudmila war mein erstes Kind. Er ist eine kleine Ljudmila.«
Manchmal, wenn ich Nikita beim Spielen zusehe, empfinde ich – wie wohl die meisten Eltern – eine unbestimmte, irrationale Angst. Wenn er im Blumenbeet nach Schnecken wühlt oder Blumenzwiebeln ausgräbt, tief in Gedanken versunken, fürchte ich, mein Kind könnte sterben oder mir irgendwie weggenommen werden. Dann sind da die Momente, meistens spätabends, wenn ich betrunken und weit weg von zu Hause mit einem Auftrag in Bagdad oder in sonst einem der gottvergessenen Löcher sitze, in denen ich so viel Zeit verbracht habe, seit ich Moskau verlassen habe, in denen ich mir vorstelle, was mit ihm geschehen würde, sollte ich sterben. Ich frage mich, ob er es schaffen wird, was ihm von mir in Erinnerung bleiben wird, ob er es verstehen, ob er weinen wird. Der Gedanke daran, ihn zu verlieren, ist so schrecklich, dass mir schwindelig wird. Ich denke oft an Marta und jene Nacht und versuche mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, wenn Fremde mir Nikita aus den Armen rissen. Ich kann es nicht.
Die Männer vom NKWD brachten Lenina und Ljudmila in das Gefängnis für minderjährige Straftäter in Simferopol, wo sie bleiben sollten, bis der Staat über ihr Schicksal entschied. Nach der grausamen Logik der Säuberung mussten die Familienmitglieder eines »Volksfeindes« zwangsläufig mit seiner Ketzerei kontaminiert sein, als sei sie eine Krankheit. Ein altes russisches Sprichwort sagt: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.« Deshalb mussten die beiden Kinder, zwölf und drei Jahre alt, für die Sünden ihres Vaters büßen. Wie er wurden sie von der Partei dazu bestimmt, zum Abschaum der Geschichte zu werden.
Das Gefängnis war schlecht beleuchtet und stank nach Urin, Karbolseife und Teersalbe. Lenina erinnert sich an die Gesichter der Männer, die ihre Daten aufnahmen, an den stechenden Geruch der überfüllten Zelle, in der sie sich auf dem strohbedeckten Boden einen Schlafplatz suchen sollten, und an das Bellen der Wachhunde auf dem Flur. Sie hielt ihre jammernde kleine Schwester fest im Arm und weinte sich in den Schlaf.
Auch Mila erinnert sich an die Nacht, als ihre Mutter verhaftet wurde. Es ist ihre erste klare Erinnerung. Sie steht im Nachthemd da, eine Puppe im Arm, ein Soldat schubst sie, und alle schreien. An die kurzen drei Jahre und zehn Monate normalen Familienlebens kann sie sich nicht erinnern. Nichts ist ihr geblieben außer der schattenhaften Erinnerung daran, auf den Schultern ihres Vaters getragen zu werden. Vom Augenblick der Verhaftung an wurde Lenina die Ersatzmutter ihrer kleinen Schwester. Zwei verängstigte Kinder allein in einer Welt, die plötzlich dunkel und unverständlich geworden war.
*** Bauer.
5
Gefängnis
Wir, die Kinder von Russlands schrecklichen Jahren,
Haben nicht die Kraft zu
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