Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Schwester zu trennen. Ein Mann in Zivil beobachtete, an den Türrahmen gelehnt, die Szene; als Lenina mir 65 Jahre später die Geschichte in der Küche ihrer Moskauer Wohnung erzählte, stand sie schwerfällig auf und lehnte sich mit verschränkten Arme an den Rahmen der Küchentür, um es mir zu demonstrieren. Der Mann trat vor, legte die Hand sanft auf die Schulter des Wächters und sagte: »Ich nehme sie.« Er beugte sich herunter und half Lenina auf die Füße.
Der Mann war Jakow Abramowitsch Mitschnik, Leiter eines riesigen neuen Kinderheims in Werchnedneprowsk, das erbaut wurde, um 1600 Straßenkinder, Kriminelle und Waisenkinder zu rehabilitieren und zu neuen sowjetischen Männern und Frauen zu erziehen. Am selben Abend wurden Ljudmila, die kleinsten Kinder und die zwölfjährige Lenina mit dem Bus in sein Waisenhaus gebracht. Nach ihrer Ankunft wurden die Kinder geduscht und entlaust, dann wurden ihnen die Köpfe rasiert. Sie wurden entsprechend ihrem Alter in Schlafsäle aufgeteilt. Lenina bekam eine Liege neben dem Bett ihrer Schwester im Schlafsaal des Krankenhauses, der am anderen Ende des Flures lag. Die Schwestern und Aufseherinnen beschlagnahmten die Schuhe und Puppen der spanischen Kinder für ihre eigenen Kinder. Lenina träumt heute noch davon, wie die spanischen Kinder ihren geliebten Spielsachen hinterherweinten, den letzten physischen Erinnerungen an zu Hause. Die ganze Nacht riefen sie »Mamá«.
Ljudmila und Lenina Bibikowa, vier und zwölf Jahre alt, im Waisenhaus Werchnedneprowsk, vermutlich Anfang 1938. Beiden war vorbeugend gegen Läuse der Kopf rasiert worden; die Puppe gehörte zur Ausstattung des Fotografen.
Als der Schrecken über ihre Gefangennahme nachließ, erwies sich Werchnedneprowsk als relativ glücklicher Ort. Es gab genug zu essen, und die Erzieherinnen waren freundlich. In den ersten Tagen im Waisenhaus versuchte Ljudmila, ihr hohes Fieber zu kühlen, indem sie ihre Beine im feuchten Sand des Sandkastens vergrub. Ihre Masern waren nach wenigen Wochen ausgeheilt, doch dann stellte sich heraus, dass sie sich mit Knochentuberkulose infiziert hatte, die sich aufgrund ihres geschwächten Immunsystems rapide ausbreitete.
Lenina besuchte ihre kleine Schwester jeden Tag nach der Schule auf der Station für Infektionskrankheiten des örtlichen Krankenhauses. Ljudmila stand immer auf einem Stuhl, lehnte sich aus dem Fenster, winkte und plapperte. Eines Tages, als Lenina sie besuchen kam, war Ljudmila still und hatte rote Augen. Ihr kleiner spanischer Freund Juan, »Juantschik«, der das Bett neben ihr gehabt hatte, war in der Nacht weggebracht worden, und niemand sagte ihr, wo er hin war. Die Krankenschwester erzählte Lenina, dass Juan an Tuberkulose gestorben sei. Eins nach dem anderen starb jedes der 18 Kinder, die auf der Station gewesen waren, als Ljudmila eingeliefert wurde. Meine Mutter war das einzige Kind, das überleben sollte.
Lenina konnte ihren Verwandten in Moskau nicht schreiben, weil sie sich nicht an die Adresse erinnern konnte; doch selbst wenn, so hätten sie es wohl nicht gewagt, die Kinder eines Volksfeinds zu retten. Sie schrieb an ihre Tante Fjodossija in Simferopol, doch die kam sie auch nicht abholen. Sie schickte aber Nachrichten von ihrer Schwester Marta. Marta sei an einen Ort namens Kasachstan verbracht worden, erklärte Fjodossija ihrer jungen Nichte, in ein Gefangenenlager namens KarLag. Ihre Adresse war eine Postfachnummer. Lenina ging jeden Tag zu Fuß fast fünf Kilometer vom Waisenhaus zur örtlichen Schule. In ihrer Freizeit schrubbte sie für ihre Lehrer die Böden und bekam dafür Zwiebeln, kleine Stücke geräucherten Schweinespeck, Zucker und Äpfel. Den Zucker und die Äpfel brachte sie Ljudmila, die Zwiebeln hob sie auf. Als sie zehn Zwiebeln gesammelt hatte, packte sie diese in ein kleines Päckchen und adressierte es sorgfältig an die Postfachnummer in Kasachstan. Sie erledigte noch weitere Arbeiten, um Briefmarken kaufen zu können, und schickte dann das Päckchen ab. Monate später erhielt sie einen Brief von Marta. Sie dankte ihrer Tochter für das Päckchen, nannte sie aber eine »Närrin«, weil sie die Zwiebeln nicht einzeln in Papier eingewickelt hatte. So seien sie gefroren und verdorben angekommen, monierte Marta. Sie fragte aber nach Ljudmila und wünschte ihren Töchtern alles Gute. Sie versprach, bald zurückzukommen und sie abzuholen. Lenina sollte erst nach dem Krieg wieder von ihr hören.
Meine Mutter kann sich nicht
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