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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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knisternden Aufnahme der sowjetischen Hymne gehisst wurde. Lenina und die älteren Kinder saßen manchmal ehrfürchtig vor einem großen Bakelitradio und lauschten den immer besser werdenden Reden und Predigten im Kinderprogramm des sowjetischen Staatsradios. Später hörten die Erwachsenen heimlich die Abendnachrichten über den Krieg, den Deutschland gegen Frankreich und Großbritannien angezettelt hatte. Doch der Konflikt schien weit weg, der Todeskampf der dekadenten kapitalistischen Welt, die sich selbst vernichtete. Die Sowjetunion und Deutschland hatten zwei Jahre zuvor einen Nichtangriffspakt geschlossen. Der Krieg betraf andere Menschen, weit weg von den Ebenen des Dnjepr.

    Es war ein glühend heißer Sommer. Der Steppenwind trug riesige Staubwolken von den trockenen Feldern heran und bedeckte die Gebäude des Waisenhauses und die Bäume auf dem Spielplatz mit einer feinen braunen Schicht. Während die deutsche Wehrmacht sich an der sowjetisch-polnischen Grenze sammelte, ging für die Kinder das Leben in jenen brütenden Tagen weiter wie gehabt.
    Dann, am 22. Juni 1941, befahl Hitler den Überraschungsangriff mit dem Decknamen »Unternehmen Barbarossa«, der schnell den sowjetischen Widerstand vernichtete. Die Schwestern erfuhren nicht, dass ihr Onkel Issaak, der zum Piloten gewordene Ingenieur, in den ersten Kriegstagen über Weißrussland abgeschossen wurde. Er flog eine Polikarpow und wurde von den zahlreichen überlegen bewaffneten Messerschmitts ausmanövriert, die den Himmel vor der vorrückenden Wehrmacht frei machten. Seine Familie erfuhr nie, wo, und ob überhaupt, er begraben wurde.
    Lenina und Ljudmila erfuhren erst später von dem Überfall. Ihre Lehrer, die es selbst aus dem Radio hatten, verkündeten feierlich, die Rote Armee schlüge die Angreifer heldenhaft zurück. Das war nicht wahr. Innerhalb von zehn Tagen war Minsk gefallen. Bis zum 27. Juni waren zwei deutsche Armeen über 300 Kilometer weit auf sowjetisches Territorium vorgedrungen, ein Drittel der Strecke nach Moskau. Am 21. August hatte die Wehrmacht die Bahnverbindung Moskau–Leningrad unterbrochen. Deutsche Panzerdivisionen rückten rasch über die Weizenfelder der Ukraine gegen Stalingrad und die Ölfelder des Kaukasus vor.
    Kiew fiel am 26. September. Tage später trug der Wind den Klang ferner Geschütze von Westen nach Werchnedneprowsk. L
    »Danke, Genosse Stalin, für unsere glückliche Kindheit.« Lenina (rechts) und eine Freundin, 1938 in Werchnedneprowsk.
    enina war in der Schule, als Lastwagen kamen, um die älteren Kinder des Waisenhauses für das Ausheben von Schützengräben zu mobilisieren. Sie wurden angewiesen, ihre Bücher zurückzulassen und so schnell wie möglich aufzusteigen. Lenina dachte, sie wären bald zurück, vielleicht sogar rechtzeitig zum Abendessen. Ihre Schwester, die noch mit den Kleinen in der Schule war, sah sie nicht fortfahren.
    Lenina kehrte nie nach Werchnedneprowsk zurück. Sie wurde mit den anderen Kindern in die Vororte der Stadt gebracht, wo sie tagelang schwarze Erde auf die Bleche mit den vier Griffen schaufelten, die die Russen anstelle von Schubkarren verwenden.
    »Vergiss nie die guten Menschen.« Jakow Mitschnik, Leiter des Waisenhauses in Werchnedneprowsk, mit Leninas ältester Tochter Nadja, 1950. Mitschnik bewahrte Lenina und Ljudmila im November 1937 bei ihrer Ankunft in Dnepropetrowsk davor, getrennt zu werden; 1941, als die Deutschen vorrückten, rettete er die verbliebenen Kinder des Waisenhauses, darunter auch Ljudmila, indem er sie in einem Kahn auf dem Dnjepr aussetzte.
    Nach wenigen Tagen mussten sie vor dem Vormarsch der Deutschen nach Osten zurückweichen. Sie schliefen, wann immer sie konnten, auf Säcken auf den Böden der hastig evakuierten Fabriken oder auf der weichen, frisch ausgehobenen Erde. Sie schaufelten bei Tag und liefen in der Nacht, jeden Tag weiter vor der deutschen Offensive zurückweichend. Es gab keinen Weg zurück ins Waisenhaus und keine Nachricht von Ljudmila oder den anderen Kindern, die sie zurückgelassen hatten.
    Ljudmila erinnert sich kaum an das, was als Nächstes geschah. Ihre Erinnerung an die Zeit scheint so undeutlich zu sein, wie Leninas klar ist. Lenina hörte die Geschichte erst nach dem Krieg, von einer ihrer Mitschülerinnen, die an jenem Tag, als die älteren Kinder zum Schaufeln abgeholt wurden, im Waisenhaus zurückgeblieben war, und dann noch einmal von Jakow Mitschnik, dem Leiter des Kinderheims, der ein Freund und Wohltäter

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