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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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Nichte gingen zum Haupteingang, zeigten dem diensthabenden Wachtmeister Issaaks Pass und wurden in ein Wartezimmer im oberen Stock geschickt. Ein Mann in einer dunkelgrünen NKWD-Uniform, Reithosen und Lederstiefeln sprach kurz mit Issaak – offenbar war er der Freund, der das Treffen arrangiert hatte.
    Dann brachte man sie endlich in ein Büro. Lenina glaubte zunächst, es sei leer. Sie sah einen gewaltigen Schreibtisch aus Holz mit einer hellen Lampe darauf. Die schweren Vorhänge vor den hohen Fenstern waren halb zugezogen, trotz der herrlichen Sommersonne draußen. Der Boden war mit einem dicken Teppich bedeckt. Dann entdeckte sie hinter dem Schreibtisch einen kahl werdenden kleinen Kopf mit einer Brille. Der General, fand Lenina, sah aus wie ein Zwerg.
    Der Zwerg blickte zu Issaak und dem kleinen Mädchen auf und fragte sie nach ihrem Begehr. Issaak erklärte zögernd, sein Bruder, ein guter und loyaler Kommunist, sei verhaftet worden, wohl aufgrund eines Irrtums, eines Versehens, oder vielleicht aus dem Übereifer seiner Leute heraus, die Feinde des Staates auszumerzen. Der General nahm eine dünne Akte zur Hand und blätterte sie flüchtig durch, während Issaak sprach. Dann sagte er ein einziges Wort: » rasberemsja « – »wir klären das«. Damit war das Treffen beendet. Issaak brachte Lenina erschüttert nach Hause und setzte sie am folgenden Tag in einen Zug zurück nach Tschernigow. Ein paar Tage später veräußerte Marta so viele Küchenutensilien, wie sie nur konnte, und kaufte für sich und ihre Kinder Zugfahrkarten auf die Krim, wo sie bei ihrer älteren Schwester Fjodossija unterkommen wollte. Doch ehe sie losfuhren, hinterließ sie pflichtbewusst ihre neue Adresse beim Tschernigower NKWD, damit ihr Mann sich keine Sorgen machte, wenn er in eine leere Wohnung zurückkehrte, sobald der Irrtum aufgeklärt war.

    Der Winter kam, und sie hatten immer noch keine Nachricht. Marta und die Kinder wohnten in der Küche von Fjodossijas kleinem Holzhaus in einem Vorort von Simferopol. Es war ein tiefer Fall nach dem Leben als Mitglieder der verwöhnten Parteielite in Tschernigow. Marta fand eine Stelle als Krankenschwester im Kinderkrankenhaus für ansteckende Krankheiten und brachte für die Kinder oft übrig gebliebenes Essen aus dem Krankenhaus nach Hause.
    Das Klima auf der Krim ist milder als im europäischen Teil Russlands, doch die Winter bringen einen kalten Meereswind aus der Bucht von Sewastopol. Fjodossijas zugiges Haus wurde über einen kleinen Kanonenofen beheizt, der burschuika genannt wurde – ein »bürgerlicher« Ofen, der schnell heiß wurde, bis zum Morgen aber immer kalt war. Die Kinder durften ihn tagsüber nicht anfeuern, wenn Marta im Krankenhaus war, und so saßen sie in Pullovern am Fenster und sahen zu, wie der Regen auf den kleinen Obstgarten fiel, der das Haus umgab.
    Das Leben ist anderswo, dachte Lenina, in diesen gemächlichen Monaten. Sie vermisste die Betriebsamkeit von Tschernigow, ihre Nachbarn und Schulfreunde und den endlosen Strom Funktionäre und Freunde, die bis spätabends in ihrer Küche saßen. Doch am meisten vermisste sie ihren Vater, der ihre Zuflucht und ihr bester Freund gewesen war. Sie glaubte fest daran, dass er noch lebte und wohlauf sei und sie genauso vermisste wie sie ihn.
    Ljudmila war immer schon ein ruhiges Kind gewesen, doch nun zog sie sich ganz in sich zurück. Sie spielte mit ihren Puppen auf dem Fußboden in einer Ecke von Fjodossijas Küche, neben der Truhe, auf der Lenina schlief, und hielt sich von ihrer schimpfenden Mutter und Tante fern. Marta kam immer spät nach Hause, erschöpft und mit ungekämmtem Haar. Seit der Verhaftung ihres Mannes gab sie nichts mehr auf ihr Aussehen.
    Anfang Dezember erkrankte Ljudmila an den Masern. Sie hatte sich wohl über das Essen angesteckt oder vielleicht über die Krankenhauskleidung ihrer Mutter. Als das Fieber stieg, blieb Marta zu Hause bei ihrer Tochter. Sie schickte Lenina zur Apotheke, um Senfpflaster gegen Ljudmilas Husten und Tropfen für ihre geschwollenen Augen zu holen.
    In der dritten oder vierten Fiebernacht klopfte es kräftig an der Tür. Fjodossija machte auf. Mehrere Männer in dunklen Uniformen mit Pistolen im Gürtel drängten sich ins Haus. Sie verlangten die »Bürgerin Bibikowa« zu sehen. Marta rappelte sich mit Ljudmila im Arm auf, als sie die Küchentür öffneten.
    »Steh auf!«, befahl einer der Männer Lenina und hob den Truhendeckel hoch, auf dem sie geschlafen hatte. Sie

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