Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
erinnern, als Kind Spielsachen gehabt zu haben, abgesehen von einem Teddybären, den sie aus Tschernigow mitgebracht und im Kindergefängnis verloren hatte. Die Puppe auf dem Foto, das in Werchnedneprowsk aufgenommen wurde, ist eine Requisite des Fotografen. Lenina erinnert sich, wie Ljudmila weinte, als man ihr sagte, sie dürfe die Puppe nicht behalten, nachdem das Foto gemacht worden war.
Ljudmila zeichnete und malte begeistert, hatte aber kein Talent, wie sie es ausdrückte. Trotz ihrer Krankheit lernte sie früh lesen und verbrachte bald die langen, einsamen Tage im Krankenhaus damit, Bücher aus der Bibliothek des Waisenhauses zu lesen. Bücher und die wunderbaren Welten darin ersetzten ihr die Freunde. In den langen Monaten erzwungenen Nichtstuns im Krankenhaus, die ihre Kindheit durchzogen, lernte sie, in einer Fantasiewelt zu leben, die sie in ihrem lebhaften Geist erstehen ließ. Die geheimnisvollen, düsteren Wälder in Puschkins Geschichten, die Reisen auf dem fliegenden Teppich über die schlafenden Häuser Bagdads in 1001 Nacht , die fantastischen Ungeheuer, denen Sindbad begegnet, und die Hexen und stolzen Reiter des alten Russland, illustriert von Iwan Bilibin – dorthin flüchtete sie sich in ihrer kindlichen Fantasie. Die harte, sterile, lieblose Welt um sie herum wurde erträglicher in dem Wissen, dass es irgendwo, weit weg, eine bessere Welt gab, in die sie irgendwann reisen würde. Selbst als sie schon erwachsen und ihre verkrüppelten Beine endlich geheilt waren, sollte diese mächtige Vision eines anderen zauberischen Lebens – und das Gefühl, dass dieses Leben durch Geduld und reine Willenskraft erlangt werden könnte – sie niemals verlassen.
Im Waisenhaus hatte Lenina einen Traum. Sie trug ihre weiße Bluse und das rote Halstuch der Jungen Pioniere. Ein paar Kinder riefen ihr zu: »Dein Vater! Sie bringen deinen Vater raus!« Sie rannte hinaus und sah ihren Vater von hinten, geführt von drei Männern mit Gewehren. Sie brachten ihn ans steile Ufer des Dnjepr, ganz nahe am Waisenhaus. Er stand lange am Ufer, und Lenina sah zu, eingefroren in der Bewegungsunfähigkeit des Traums. Dann schossen die drei Männer mit ihren Gewehren auf ihren Vater, lautlos. Er fiel den Steilhang zum Fluss hinunter. Es war das einzige Mal, dass Lenina je von ihrem Vater träumte.
Ende 1938 hatte sich Ljudmila so weit erholt, dass sie in den Kindergarten gehen konnte, aber sie musste immer wieder ins Krankenhaus, wo in primitiven Operationen erneut Gewebe weggeschnitten wurde. Die Knochen ihres rechten Beines waren von der Tuberkulose zerfressen, und sie humpelte stark. Trotzdem war sie ein fröhliches, intelligentes Kind und liebte ihre Schwester abgöttisch. Das Waisenhaus war die einzige Welt, die sie kannte, und in gewisser Weise war sie glücklich dort.
Für Lenina war es schwerer. Ihr einstiges Leben verfolgte sie. Die Lehrer sagten ihr, ihre Eltern seien »Volksfeinde« und würden bestraft werden. Sie sollte versuchen, sie zu vergessen. Onkel Stalin, dessen Porträt im Klassenzimmer hing, würde sich nun um sie kümmern. Lenina sang zusammen mit den anderen Kindern »Danke, Genosse Stalin, für unsere glückliche Kindheit«. Doch sie zweifelte nie daran, dass sie ihren geliebten Vater eines Tages wiedersehen würde. Wenn die Lehrer über die »strahlende Zukunft« sprachen, stellte Lenina sich vor, wie sie wieder mit ihrem Vater vereint sein würde.
Die Steppe der östlichen Ukraine ist flach und eintönig, der Himmel so groß wie die ganze Welt. Im Sommer ging Lenina oft mit den anderen Kindern zum Dnjepr hinunter, badete in dem breiten, träge dahinfließenden Fluss und rutschte auf dem matschigen Ufer, wenn sie ins Wasser kletterte. Der strenge Rhythmus des Waisenhauses ließ Lenina wenig Raum zum Nachdenken. Und unter den Hunderten Kindern, denen es ergangen war wie ihnen, hatten es die Bibikow-Schwestern besser als die meisten. Sie hatten wenigstens einander.
Doch dann wurde der Frieden, den die Mädchen in Werchnedneprowsk gefunden hatte, jäh zerstört.
Im Sommer 1941 war Lenina sechzehn und Ljudmila sieben. Ljudmila freute sich auf ihr erstes Schuljahr, und Lenina war bereits ein erfahrenes Mitglied der Jungen Pioniere und trug stolz die schicke gestärkte Uniform. Morgens fand meistens ein Appell statt, zu der die verschiedenen Schulklassen in exakten Reihen aufgestellt wurden. Zwei der größeren Kinder fungierten als Ehrenwächter, wenn die sowjetische Fahne zu den Klängen einer
Weitere Kostenlose Bücher