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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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Brücken sprengten, denn Ljudmila erinnert sich, die Wolga zusammen mit den anderen Waisenkindern auf einem Stahlkahn, vollgepackt mit Flüchtlingen, überquert zu haben. Sie sah die Träger der gesprengten Brücken, die in verrücktem Winkel in den Fluss hingen. In den Fenstern aller Schulen und öffentlichen Gebäude der Stadt standen verwundete Soldaten mit Verbänden. Dieses Bild brannte sich in Ljudmilas Gedächtnis ein: »Sie standen da, alle mit Verbänden, so viele, in jedem Fenster.«
    Auf der anderen Seite des Flusses saßen Ljudmila und die anderen Kinder wieder einmal fest. In den Bemühungen, die Stadt vor der Ankunft der Deutschen zu befestigen, und in den chaotischen ersten Wochen der Schlacht wurde jedes verfügbare Transportmittel gebraucht, um Männer und Nachschub in die heimgesuchte Stadt hinein- und Verwundete herauszubringen.
    Die Waisen wurden in Dörfern am Fluss untergebracht. Ljudmila erinnert sich an lange Flüchtlingsströme, die zu Fuß durch ihr Dorf kamen. Die Flüchtlinge schliefen auf den Feldern, wenn sie nicht weiterkonnten, und in Scheunen und Bauernhütten, die so voll waren, dass die Tür nicht mehr zuging. Ihr Schnarchen klang als gruseliges Brummen durch die Nacht, so als erzitterte die Erde. Nachts wurden Luftangriffe geflogen, und Mila erinnert sich, wie sie im hohen Gras der Steppe Schutz suchte, wenn die Bomben langsam vom Himmel fielen.
    Tag und Nacht rollten Pferdewagen durch das Dorf, beladen mit schrecklich verwundeten Soldaten, blutüberströmt und verstümmelt. Nachts glühte der Fluss rot im Widerschein der brennenden Stadt, und wenn der Wind von Westen kam, trug er die Hitze und den Rauch der großen Schlacht mit sich. Sie sah Leichen und Leichenteile im Wasser vorbeitreiben.
    Mila dachte nur noch ans Essen. Die Kinder verwahrlosten, sorgten für sich selbst, bettelten den Strom der Flüchtlinge um Reste an und jagten im Rudel nach Weizen- und Gerstenhalmen. Mila und die anderen Kinder sammelten trockenes Laub, zerbröselten es und mischten die Brösel mit dem Tabak aus den Zigarettenstummeln, die sie am Straßenrand fanden. Sie verkauften die Mischung als machorka , Bauerntabak, an die Truppen, die jeden Tag vorbeizogen, und tauschten sie gegen Zuckerwürfel oder Brotstücke. Viele der Soldaten hatte flache, mongolische Gesichter. Sie waren den weiten Weg aus Sibirien gekommen, tagelang zu Fuß vom nächstgelegenen Bahnhof marschiert und hatten am Straßenrand geschlafen, ehe sie sich in unaufhaltsamen Wellen in die Stadt bewegten.

    Ein halbes Jahrhundert später sah ich selbst die russische Armee in Aktion. Ich stand an der russischen Front am nördlichen Rand von Grosny, Tschetschenien, als ein mächtiger Feuersturm der Artillerie vor uns wütete und die Rebellenstadt um uns in Flammen aufging. Das Zentrum der Stadt verschwand hinter dichten Schwaden bitter schmeckenden Rauchs. Um uns herum standen zerklüftete Ruinen, erst durchlöchert von Schüssen und dann immer wieder ausgebombt. Suchoi-Jagdbomber kreischten im Minutentakt direkt über uns hinweg und warfen Bomben ab, die mit schrecklicher Anmut auf ihr Ziel zuschwebten, ehe sie mit einem Knall explodierten, der mächtig genug erschien, die ganze Stadt zu zerstören. Die Bombardierung war so überwältigend, dass sie körperlich präsent war; sie donnerte unter meinen Füßen, als knallte jemand tief in der Erde riesige Türen zu.
    Ich verbrachte viele Tage mit russischen Soldaten in Schützengräben im sandigen Boden und schlief Seite an Seite mit schnarchenden Rekruten in Biwaks, die sie in den zerstörten Häusern aufschlugen. Ihre Gesichter waren schwarz vor Ruß und Dreck, sie fluchten und spuckten und lachten grölend über den kleinsten Witz. Eines Abends, als wir gerade Corned Beef aus Dosen aßen, warf mir beim Licht einer zischenden Petroleumlampe ein junger Unteroffizier quer durch den Raum eine Handgranate in den Schoß. Der Sicherungsstift war herausgezogen. und der Schalthebel fehlte – einen Augenblick lang starrte ich das kleine Stahlei verständnislos an, ehe alle in schallendes Gelächter ausbrachen. Es war lediglich eine Attrappe.
    Sie waren nur Kinder im Rausch der Gefahr und des Krieges. Aber wenn wir auf Patrouille gingen, knirschend über Glasscherben und aufgetürmte Ziegelsteine, dann wurden sie still und angespannt, wie alle Infanteristen in der Schlacht. Ihre Taktik sah so aus: Sie rückten vor, bis sie unter Beschuss gerieten, lokalisierten den Schützen und riefen die

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