Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Artillerie. Dann krochen sie so schnell wie möglich wieder in ihren Stützpunkt zurück, betend, dass die russischen Schützen nicht betrunken waren oder zu kurz zielten. Diese Taktik hatte sich seit den Straßenkämpfen in Stalingrad kaum verändert. Wenn wir uns zur Nacht einrichteten, kickten die jungen Soldaten ihre hohen schweinsledernen Stiefel von sich und wickelten die Fußlappen ab, die russische Soldaten anstelle von Socken tragen. Dann formten sie ihre Fellmützen zu improvisierten Kopfkissen. Draußen geriet eine andere Einheit unter Beschuss, und wir spürten die Resonanz zahlreicher Raketenwerfer durch den Betonboden. Die ganze Szene, bis hin zu den Kerzenstummeln und den hölzernen Streichholzschachteln, die die Jungs in den Taschen trugen und mit denen sie ihre papirossy mit Pappmundstück anzündeten, hätte sich auch im Krieg ihrer Großväter abspielen können.
Heute ist die Steppe um Stalingrad herum leer und still. So weit das Auge reicht, erstrecken sich die Felder der Kolchosen, in ungleichmäßigen Furchen gepflügt, dazwischen halb verfallene Hütten und lange Scheunen aus Beton. Das andere Ufer des gewaltigen Flusses verliert sich im Nebel, und das langsam fließende graue Wasser schwappt träge gegen die Ufer. Die riesigen Felder und schwankenden Bäume scheinen über die seltsamen Krämpfe zu grübeln, die vor einem halben Jahrhundert so viele Menschen hierherbrachten, um ihr Blut auf dem sandigen Boden zu vergießen.
Ich besuchte Wolgograd, wie Stalingrad heute heißt, im Winter 1999. Eine schwere, seelentötende Leere lag über der Stadt wie schmutziger Schnee, so bedrückend wie der Winterhimmel, der tief über der Landschaft hing. Sie erinnerte mich an andere Provinznester, ein Ort, an dem das bittere Konzentrat der Wirklichkeit den Geist verkümmern lässt wie eine Gurke im Einweckglas.
Auf dem Mamajew, einem niedrigen, teilweise künstlichen Hügel nördlich vom Stadtzentrum, Schauplatz einiger der erbittertsten Schlachten, befindet sich eine Gedenkstätte. Die »Mutter-Heimat-ruft«-Statue ist 52 Meter hoch und stellt eine Frau dar, die ein gewaltiges Schwert schwingt und zur Rache aufruft oder zum Sieg. Sie ist eine junge Frau mit kräftigen Armen und Schenkeln, und sie blickt über die Schulter zurück und ruft ihre Kinder auf, ihr zu folgen. Sie ist Russland als Rachegöttin, Russland als verzehrende Naturgewalt, die ihren Kindern unmögliche Opfer abverlangt.
Als der Winter 1942 anbrach und der deutsche Vormarsch in den Ruinen von Stalingrad zum Erliegen kam, fingen die Behörden die verlorenen Kinder ein, luden sie auf Lastwagen und schickten sie nordwärts nach Kuibyschew (heute Samara) am Oberlauf der Wolga. Mila wurde ebenfalls eingefangen. Sie erinnert sich an an einen kalten, überfüllten Zug, der noch weiter nach Norden fuhr. Er brachte sie und mehrere Tausend andere verlorene Kinder in ein riesiges Lager für Waisenkinder in Solikamsk bei Perm am Fuße des Ural.
Solikamsk war voll mit Menschen, die durch den Krieg ihr Zuhause verloren hatten. Die ganze Stadt schien überschwemmt mit Waisenkindern, die der Stift eines Bürokraten hierhergebracht hatte. Es herrschten, was Ljudmila »Wolfsgesetze« nannte – die Kinder bekämpften einander, um zu überleben. Die älteren Kinder zwangen die jüngeren, zehn Gramm schwere Fleischstückchen aus ihrer Mittagssuppe in ihren langen Unterhosen zu verstecken und sie ihnen auf dem Weg aus der Küche auszuhändigen. Wenn sie sich weigerten, wurden sie »ins Dunkle gesteckt« – die Großen warfen eine Decke über sie und verprügelten sie. Das Mittagessen wurde in drei Schichten ausgegeben. Die jüngsten Kinder waren zuerst dran, bewacht von den Erziehern, die aufpassten, dass sie ihr Fleisch auch wirklich aßen und es nicht für die Älteren versteckten. Ljudmila und die anderen sammelten Steppengras, mischten es mit Salz und aßen es. Es versorgte ihre Körper mit Vitaminen und beugte Rachitis vor. Milas Bauch war vom Hunger aufgedunsen und ihre Beine dünn wie Stöcke.
Manchmal erfuhren die Kinder auch Güte. In der Dorfschule wies die Lehrerin die Kinder an, ihre mageren 50 Gramm Brot zu Mittag nicht selbst zu essen, sondern den Waisenkindern zu geben – obwohl die Dorfkinder selbst halb verhungert waren und von bitterem schwarzem Rettich und winzigen Kartoffeln lebten, dem einzigen Gemüse, das die Dorfbewohner in der kurzen Vegetationsperiode im Ural anbauen konnten.
Als der Sommer 1943 kam, wurden die Kinder
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