Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Blick, sein Charisma und seine Liebe zu den Frauen. Im Alter setzte er Fett an und bekam Hängebacken, doch das offizielle Foto, das 1969 anlässlich seiner Pensionierung aufgenommen wurde, zeigt einen stolzen Mann, die Brust seiner Generalleutnantsuniform dekoriert mit Orden. Er sieht aus wie ein stolzer Diener des Vaterlands.
Wie Boris war Jakow ein exzellenter Schüler gewesen. Die Revolution und alles, wofür sie stand, hatten ihn inspiriert, und er war ein überzeugter Bolschewik geworden. Doch während sein Bruder in der Partei Karriere machte, ging Jakow zu den jungen sowjetischen Luftstreitkräften. Als Boris 1937 verhaftet wurde, war Jakow Generalmajor und diente unter Marschall Wassili Bljucher, einem alten Bürgerkriegshelden, Kommandant im Militärbezirk Ferner Osten mit Hauptquartier in Chabarowsk in der Nähe der russischen Pazifikküste. Im Oktober 1938 hatte die Säuberung auch das Militär erreicht. Bljucher, ein einstiger Waffengefährte Trotzkis, hatte ein gutes Gespür dafür, woher der politische Wind wehte. Er rief seine drei Stellvertreter zu sich und befahl ihnen ohne weitere Erklärung, sofort nach Moskau zu gehen. Jakow ging direkt nach Hause und wies seine hochschwangere Frau Warwara an, ohne zu packen den nächsten Zug nach Westen zu nehmen.
Bljucher wurde wenige Tage später verhaftet und starb durch die Hände der Vernehmungsbeamten des NKWD in der Lubjanka. Warwara brachte ihr Kind im Zug zur Welt. Durch die Abreise nach Moskau gelang es der Familie, in den bürokratischen Wirren der Säuberungen unterzutauchen. Es war die seltsame Logik Stalins, dass Millionen unschuldiger Familienmitglieder von Volksfeinden verhaftet wurden, während manche der höchsten Parteikader die Verhaftung ihrer nächsten Angehörigen überlebten. Die Frau von Stalins Außenminister Wjatscheslaw Molotow wurde ins Lager deportiert, und die Frau von Alexandr Poskrjobyschew, des Diktators Privatsekretär, wurde erschossen. »Wir finden eine neue Frau für dich«, beruhigte Stalin nonchalant seinen Sekretär.
So überlebte Jakow und hatte es bis 1942 zum Generalleutnant gebracht. Er wohnte in einer großen Wohnung in einem schönen Haus für höhere Offiziere. Warwara und ihr kleines Kind standen der Neuangekommenen feindselig gegenüber. Ihre Reaktion war vielleicht nur vernünftig. Die Tochter eines in Ungnade gefallenen und exekutierten Parteimitglieds zu beherbergen brachte sie in furchtbare Gefahr. Trotzdem bestand Jakow darauf, dass seine Nichte blieb, und Warwara war letztlich froh um die Hilfe im Haushalt. Lenina wurde so etwas wie eine unbezahlte Dienstmagd, doch wenigstens ging es ihr gut, und sie war bei ihrer Familie. Jakow erzählte Lenina, dass ihr Onkel Issaak gefallen war. Er erzählte ihr auch, dass er weder von Boris noch von Marta etwas gehört habe, und warnte sie streng, sie dürfe mit niemandem darüber reden, was mit ihnen geschehen war. Als Bruder eines Verräters hatten nur Glück und der Krieg Jakow vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt.
Lenina erzählte ihrer Familie, wie sie im Chaos des Rückzugs ihre Schwester Ljudmila verloren hatte. Warwara sagte in gehässigem Ton zu ihr, sie solle sich keinen falschen Hoffnungen hingeben, ihre Schwester je wiederzufinden.
Jakow besorgte Lenina eine Stelle als Funkerin auf dem Flugfeld Chodinskoje in den nördlichen Vororten von Moskau. Dort flogen Testpiloten die neuen Yak-Jagdbomber, die im Flugzeugmotorenwerk Dynamo, in dem Issaak einst gearbeitet hatte, in Zusammenarbeit mit dem Konstruktionsbüro Lawotschkin, in dem Jakow für die militärischen Aufträge zuständig war, vom Band liefen.
Lenina machte ihre Sache gut, und die Piloten mochten sie. Während der Testflüge sangen sie mit ihr über Funk im Duett. Bis zu ihrem Lebensende wusste sie ihr Rufzeichen – 223305 – auswendig und war empört, wenn jemand ihr unterstellte, sie habe es vergessen. »Eher vergesse ich meinen eigenen Namen als mein Rufzeichen«, sagte sie scherzhaft. Abends schrieb Lenina mithilfe ihres Onkels Informationsgesuche über Ljudmila und brachte sie eigenhändig ins Volkskommissariat für Aufklärung, das für die Waisenkinder der Sowjetunion zuständig war. Doch sie erhielt keine Nachrichten.
Boris’ Bruder Jakow Bibikow in den Siebzigerjahren in der Uniform eines Generalleutnants der Luftstreitkräfte.
Lenina verbrachte die folgenden zwei Jahre bei Jakows Familie. Wie die Jahre in Werchnedneprowsk war es eine friedliche Zeit. Im Kriegsgeschehen hatte
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