Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
sich das Blatt gewendet, seit Hitlers 6. Armee in Stalingrad eingekesselt und aufgerieben worden war. Die Rote Armee rückte nach Westen vor.
Im Sommer 1944, als die Front nach Polen vorstieß und die Alliierten in der Normandie landeten, teilte Jakow Lenina mit, er habe eine Aufgabe für sie. Ein Kollege von ihm, ebenfalls ein General, hatte einen Sohn, zu dem er jede Verbindung verloren hatte, als das Kind mit Tausenden anderen aus dem belagerten Leningrad evakuiert worden war. Nun hatte er erfahren, dass der Junge in einem Lager für aus ihrer Heimat vertriebene Kinder im Ural sei. Lenina sollte mit den notwendigen Papieren in das Lager fliegen und den Jungen zurück nach Moskau bringen.
Eine Woche später flog Lenina mit der russischen Mannschaft eines amerikanischen Douglas-Transportflugzeugs nach Molotow, dem heutigen Perm. Sie trug ihre Luftwaffenuniform und hatte ihre Pilotenmütze keck nach hinten geschoben. Sie saß zum ersten Mal in einem Flugzeug.
In Perm hatte der Direktor des örtlichen Flugzeugwerks, ein persönlicher Freund von Jakow, eine alte zweisitzige Polikarpow organisiert, die sie in das Kinderlager bringen sollte, um den Sohn des Generals abzuholen. Das Lager hieß Solikamsk.
Die ramponierte kleine Polikarpow landete hüpfend auf einem provisorischen Flugfeld am Stadtrand, und Lenina und der junge Pilot gingen zusammen über die matschigen Straßen zum Hauptwaisenhaus, einem kunstvoll verzierten vorrevolutionären Gebäude aus roten Ziegelsteinen, das von einer niedrigen Mauer umgeben war. Auf dem Schulhof rannten Hunderte zerlumpter Kinder herum. Als Lenina durch das Tor trat und auf die Eingangstür des Gebäudes zuging, bemerkte sie ein hinkendes Kind, das auf sie zugerannt kam.
»Tak ze moja sestra Lina!« , rief das Kind auf Ukrainisch. »Das ist meine Schwester Lina!«
Ljudmila war zahnlos und ihr Bauch vom Hunger aufgetrieben. Als Lenina auf die Knie fiel, um ihre Schwester zu umarmen, fing Ljudmila an zu weinen und bat um Essen.
»Jisti chotsche! Jisti chotsche!« – »Ich will Essen!«
Lenina konnte nichts sagen. Der Pilot sah sie erstaunt an, er verstand nicht, was da geschah. Die schluchzenden Schwestern waren untrennbar, und so brachte er sie zusammen in das Büro der Direktorin.
Die Direktorin brach in Tränen aus, als Lenina ihr erklärte, sie habe ihre Schwester gefunden. Sie entließ den vierjährigen Jungen, um dessentwillen Lenina gekommen war, doch sie mussten qualvolle Stunden warten, in denen der Pilot seinen Chef in Perm anrief, damit dieser in Moskau um Genehmigung ersuchte, Ljudmila nach Moskau mitzunehmen. Irgendjemand erreichte Jakow telefonisch – im kriegsgeschüttelten Russland keine geringe Leistung –, und der ließ seine Beziehungen spielen. Die Genehmigung wurde erteilt. Lenina flog mit zwei kotzenden Kindern auf dem Schoß auf dem Lafettensitz des Flugzeugs zurück nach Perm.
Sie blieben über Nacht bei einem Kollegen des Direktors des Flugzeugwerks, der in einem Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung wohnte. Lenina fiel auf, dass die Kinder in der Nacht immer wieder aufstanden und zur Toilette liefen. Am Morgen wurde sie von empörtem Geschrei in der Gemeinschaftsküche geweckt. Die Kinder hatten alles gegessen, was sie in den Küchenschränken der Nachbarn finden konnten, darunter auch einen riesigen Topf Hühnchen und Reis. Als sie sich auf den Weg zum Flughafen machten, um mit einem Transportflugzeug nach Moskau zu fliegen, bekamen Ljudmila und der Junge massiven Durchfall. Ihre unterernährten Körper vertrugen so reichhaltiges Essen nicht.
Zurück in Moskau, war in Jakows Wohnung kein Platz für das kranke Kind, aber er sorgte dafür, dass Ljudmila in ein Zentrum für heimatlose Kinder von Parteimitgliedern im Danilowski-Kloster gebracht wurde. Das Essen dort kam aus Hilfslieferungen aus den USA und war ein unvorstellbarer Luxus. Es gab Tomatensuppe in Dosen von Campbell’s, Corned Beef, Thunfisch und Kondensmilch. Am beeindruckendsten waren die riesigen Dosen mit Kakaopulver von Hershey’s, die Mila so wunderschön fand, dass sie heute noch manchmal an sie denkt. In den Dosen war ein Siegel aus Goldfolie, und sie sah ehrfürchtig zu, wenn die Köche des Krankenhauses sie aufrissen. In der dunkelbraunen Schokolade steckte ein Portionslöffel aus Bakelit. Ljudmila war zutiefst erstaunt angesichts einer so perfekten Verpackung – und die Vorstellung eines Löffels zum Wegwerfen war ihr einfach unverständlich. Eine solche Kakaopulverdose
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