Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
von Solikamsk zu Hunderten in die Wildnis der Taiga geschickt, in die Sümpfe und Wälder rund um die Stadt, um Beeren für verwundete Soldaten zu sammeln. Jedes Kind musste einen halben Eimer voll abliefern. Mila hatte panische Angst davor, in die tiefen, morastigen Wasserlöcher zu fallen, die unter dem dicken Moos der Taiga verborgen lagen. Auf einer der Expeditionen mussten die Kinder 25 Kilometer tief in die Wälder laufen, um noch Gebiete zu finden, die die Dorfbewohner nicht abgesammelt hatten. Auf dem Heimweg führte Mila, die erst neun Jahre alt war, eine große Gruppe Kinder an. Sie humpelte ihnen voran, trotz ihres verkrüppelten Beines, und sang Lieder der Jungen Pioniere. Als sie mit ihren Beeren wieder im Waisenhaus waren, hatte Mila blutunterlaufene Augen als Folge der körperlichen Überanstrengung. Die Wolfsgesetze von Solikamsk hatten sie eines gelehrt – die körperlich Unterlegenen können nur überleben, wenn sie es irgendwie schaffen, die anderen durch reine Charakterstärke zu führen.
Dnjepropetrowsk war nach einer Woche gefallen. Lenina und die älteren Waisenhauskinder waren wie ihre Schwester und Millionen andere Flüchtlinge zu Fuß, auf Karren und auf Lastwagen auf dem Weg nach Osten. Immer, wenn ihr Arbeitskommando anhielt, hoben sie frische Schützengräben aus und errichteten Panzersperren.
Anfang September 1942 war Lenina in der Gegend um Stawropol, direkt vor der vordersten Linie des deutschen Vormarschs. Hitler hatte befohlen, den Marsch auf den Kaukasus und die Ölfelder von Baku zu stoppen und alle verfügbaren Kräfte für die Schlacht um Stalingrad zu mobilisieren, fast 500 Kilometer weiter nördlich. Lenina wurde mit einem Dutzend anderer älterer Kinder in einem Dorf und der benachbarten Kolchose zurückgelassen.
Lenina war auf der Kolchose keine große Hilfe, weil ihre Hände vom Graben wundgescheuert waren und sich nun entzündet hatten und schmerzten. Einer der Arbeiter auf dem Hof zeigte ihr, wie man ein Pferd mit einem Wagen voller Feldfrüchte von den Feldern zu den Scheunen führt. Dies sollte in der Erntezeit ihre Aufgabe sein. Eine der Frauen im Dorf, eine Armenierin, bot Lenina zusätzliche Lebensmittel an, wenn sie ihr half, die Holzböden in ihrem Haus mit einem Stück Karbolseife und einem Messer zu reinigen und andere anfallende Arbeiten im Haus zu erledigen. Als Lenina mir die Geschichte erzählte, krampfte sie ihre Finger auf dem Tisch auf die Länge des kurzen, stumpfen Messers zusammen, das ihr die Frau zum Abschaben der Böden gegeben hatte, und zeigte, wie sie ihre verbundenen Hände im heißen Seifenwasser spülte.
Während Lenina schrubbte und die Frau für ihre Familie kochte, kamen sie ins Gespräch. Die Frau erzählte Lenina, sie sei aus Moskau evakuiert worden. Lenina wiederum erzählte ihre Geschichte und dass sie Angehörige in Moskau hätte. Die Hausfrau machte Lenina ein Angebot. Wenn Lenina zusammen mit ihrer jüngeren Tochter nach Moskau fahren und dort Trockenfrüchte auf dem Markt verkaufen würde, so würde sie ihr die Zugfahrkarte kaufen, die wegen des Krieges nur an Menschen verkauft wurden, die mit einem Wohnsitz in Moskau gemeldet waren und einen entsprechenden Stempel im Pass hatten. Lenina, die nun, da sie von Ljudmila getrennt worden war, unbedingt ihre Familie finden wollte, sagte zu. Eine Woche später fanden sie und die Tochter der Frau, beladen mit acht Koffern, die mit Stoffstreifen paarweise zusammengebunden und vollgestopft mit getrockneten Aprikosen waren, einen Platz in einem Zug nach Moskau. Mit Umweg über den Fernen Osten des Wolgabeckens, um den Kämpfen auszuweichen, machten sie sich auf die Reise in die Hauptstadt.
Am Kursker Bahnhof wurde das Mädchen von ihren armenischen Cousinen abgeholt, die Lenina die Koffer abnahmen. Sie winkten zum Abschied und verschwanden in der Metro. Lenina ging die zehn Kilometer bis zur Krasnaja-Presnja-Straße und fand dort aus dem Gedächtnis heraus die Wohnung ihrer Großmutter. Sie war leer. Doch einige Nachbarn, die sich von ihrem letzten Besuch vor vier Jahren noch an Lenina erinnerten, erzählten ihr, dass ihre Großmutter und ihre Cousinen evakuiert worden waren. Sie kramten die Telefonnummer von Leninas Onkel Jakow hervor und riefen ihn vom öffentlichen Telefon auf der Straße aus an. Eine Stunde später kam er in einem Dienstwagen der Luftwaffe und brachte Lenina in seine Wohnung am Taganskajaplatz.
Jakow war der ältere Bruder von Boris. Er hatte Boris’ intensiven
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