Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
konnte nur aus der Zauberwelt ihrer Träume kommen.
7
Mila
Wir wurden geboren, damit ein Märchen wahr wird,
Wir überwinden Raum und Zeit,
Stalin gab uns Stahlflügel statt Armen
Und statt Herzen eine feurige Maschine.
»Der Fliegermarsch«, beliebtes Lied aus den Dreißigerjahren
Mila nahm schnell zu, doch ihr Körper war immer noch von der Tuberkulose entstellt. Sie verbrachte sechs Monate im Danilowski-Kloster und verschlang dort bunte amerikanische Comichefte. Sie war zehn Jahre alt. Und sie hatte überlebt.
Im Frühjahr 1945 wurde sie in ein Spezialheim für kranke Kinder in Malachowka verlegt, nur eine kurze Fahrt mit der elektritschka , dem Vorortzug, von Moskau entfernt. Hier begann ihre wirkliche Genesung. Ihr Bauch war immer noch aufgedunsen vom Hunger – »Er stand weiter vor als ihre Nase«, erinnert sich Lenina –, und ihr linkes Bein war verkümmert. Doch sie war stets fröhlich, sang im Hof Lieder und spielte mit den anderen Kindern Himmel und Hölle. Mila meldete sich freiwillig zur Essensüberwachung, bei der die Kinder in den Küchen standen und aufpassten, dass die Köche, wenn sie die großen Dosen mit amerikanischem Corned Beef öffneten, auch wirklich jedes Gramm in die Suppe gaben. Trotz des wunderbaren amerikanischen Essens verlor sie nie die psychischen Narben des Hungers. »Hunger in der Kindheit begleitet dich dein Leben lang«, sagte sie mir. »Du wirst nie wieder richtig satt.«
Alles in allem konnten sich Lenina und Ljudmila in einer Generation, die die Hungersnöte, die Säuberungen und den Krieg überlebt hatte, glücklich schätzen. Sie hatten ihr Leben, und sie hatten einander. Um sie herum waren so viele, die viel mehr verloren hatten. Vielleicht wurden deshalb die Schwestern nicht zerrissen von diesen Erfahrungen, die so traumatisch sind, dass wir uns kaum vorstellen können, wie man überhaupt überleben konnte. Mila lebte, als die spanischen Kinder um sie herum starben; Lenina fand ihre Schwester durch reinen Zufall, was Tausenden anderen Kindern nie gelang. Das allein war schon genug, um dankbar zu sein.
Auch hatten Lenina und Ljudmila zweifellos überlebt, weil sie von Natur aus anpassungsfähig waren und für den Moment leben konnten. Ohne die große Welt zu sehen, lebten sie ihr Leben im Hier und Jetzt, vielleicht die mächtigste Waffe gegen die Verzweiflung. Und für Mila zumindest war da die große schützende Unkenntnis der Vergangenheit, die sie verloren hatte, vergraben unter unscharfen Halberinnerungen an die Kindheit – wodurch die Wirklichkeit des Gefängnisses und des Waisenhauses einfach eine Tatsache wurde, etwas, was man ertragen musste, aber nicht betrauern oder verstehen konnte. Sie hatte Narben davongetragen, physisch und psychisch, doch sie war nicht gebrochen. Der Kakao von Hershey’s und das Corned Beef heilten ihren Körper, und ihr Geist war intakt und bereit, es mit der Welt aufzunehmen.
Bald nach Ljudmilas Rückkehr aus Solikamsk besuchte ein junger Panzerhauptmann namens Alexandr Wassin die Wohnung der Bibikows am Taganskajaplatz. Er war der Neffe von Jakows Frau Warwara. Lenina begrüßte schüchtern ihren entfernten Cousin. Alexandr – Sascha – war gesund und gut aussehend, mit einem gewinnenden Lächeln und einem lauten Lachen. Er sah hervorragend aus in seiner olivgrünen Uniform, seinen Reithosen und weichen Offiziersstiefeln, den Epauletten und dem blonden Bürstenhaarschnitt.
Lenina und Sascha waren sich 1937 schon einmal flüchtig begegnet, als Lenina zum ersten Mal in Moskau war, gleich nach der Verhaftung ihres Vaters. Sascha scherzte, wie hübsch seine kleine Cousine geworden sei. Er bot ihr an, sie zur Metro zu bringen, als sie zur Arbeit aufbrach. Halb im Scherz flirtete er mit ihr, kitzelte sie auf der Rolltreppe zur Metro und sagte, er wolle sie heiraten. Ein paar Tage später trafen sie sich im Krasnopresnenski-Park in der Nähe des Zoos wieder, zu ihrem ersten Rendezvous. Er ging mit ihr in ein Café im Park. Lenina war noch nie zuvor in irgendeinem Restaurant gewesen. 36 Jahre später, als Sascha an einem Herzinfarkt gestorben war, organisierten seine Kollegen den Leichenschmaus zufällig in genau diesem Café.
Nachdem er ihr zwei Wochen lang den Hof gemacht hatte, musste Sascha zurück zu seiner Einheit. Er hielt um Leninas Hand an, ehe er aufbrach, und sie sagte Ja.
Drei Tage, nachdem Sascha Moskau verlassen hatte, saß er in einem Wagen auf dem Weg zur Frontlinie westlich von Smolensk. Der Wagen fuhr über
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