Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Wertschätzung. Für Lenina wie auch für meine Mutter gehörten Essen und Glück immer eng zusammen.
Im Januar 1945, kurz vor ihrem elften Geburtstag, wurde Ljudmila für so weit genesen erklärt, dass sie aus dem Kinderheim in Malachowka entlassen werden konnte. Aber in Leninas Einzimmerwohnung in der Gerzenstraße war kein Platz für sie. Lenina war bereits mit ihrem ersten Kind schwanger, und Saschas Schwester Tamara schlief auf einem Klappbett in der Küche. Lenina rief ihre Tante Warwara an, doch sie weigerte sich, Ljudmila aufzunehmen. »Noch so ein Schnorrer am Telefon«, sagte sie zu ihrem Mann, als er fragte, wer angerufen habe. Also half Sascha bei der Suche nach einem Platz für Ljudmila in einem Waisenhaus in Saltykowka, 40 Kilometer außerhalb von Moskau. Ljudmila nahm einen einzigen Pappkoffer mit Kleidern des amerikanischen Roten Kreuzes, ein paar Kinderbüchern und einer Puppe mit.
Saltykowka ist ein hübscher, verschlafener Ort. Meine Mutter ich waren 1988 an einem staubigen Sommernachmittag zusammen dort. Wir nahmen am Kursker Bahnhof die elektritschka , wie meine Mutter so oft als Kind. Der Bahnsteig in Saltykowka ist nicht mehr als ein Betonstreifen, und als der Zug ratternd durch die enge Schneise im Birkenwald davongefahren war, hörten wir nur noch die Vögel und das ferne Heulen eines Motors.
»Hier hat sich gar nichts verändert«, verkündete meine Mutter, als wir Arm in Arm die unasphaltierte Dorfstraße entlanggingen, die einzige Straße im Ort. Die Holzhäuser waren baufällig, in Grün oder mattem Gelb gestrichen, und am Ende der Straße stand das große Tor des Waisenhauses. Schiefe Gartenzäune, die wie betrunken aussahen, umgaben winzige Gärten, und die Häuser waren halb versteckt hinter gigantischen Sonnenblumen und verwilderten Jasminsträuchern.
Kapitän Alexandr Wassin, 1942. Kurz nachdem er um Leninas Hand angehalten hatte, fuhr sein Wagen in der Nähe von Smolensk über eine Mine, und sein Bein musste mit einer Holzsäge amputiert werden.
Die alten Gebäude des Waisenhauses, in dem meine Mutter den größten Teil ihrer Kindheit verbracht hatte, standen direkt am Waldrand. Die heutige Generation Waisenkinder war im Sommerlager; das Anwesen lag verlassen da. Es verströmte die Melancholie aller Einrichtungen für Kinder, wenn die Kinder weg sind, eine Atmosphäre reglementierter Fröhlichkeit, gemischt mit der Schmerzlichkeit kindlicher Einsamkeit.
Doch Mila war in Saltykowka glücklich, glücklicher als irgendwo sonst, soweit sie sich erinnern konnte. Sie ging zum ersten Mal normal zur Schule und war begeistert. In den Jahren erzwungener Untätigkeit in Krankenhausbetten hatte sie gelernt, Bücher zu lieben, und Lenina brachte ihr Romane aus Jakows Bibliothek, die sie regelrecht verschlang. Die Lehrerinnen waren streng und voller Hingabe an ihren Beruf, Pädagoginnen der alten Schule, die ihren Schülern korrekte russische Grammatik und Puschkins Werke eintrichterten. Sonntags kamen Soldaten und brachten die Kinder auf großen Armeelastern in ein nahe gelegenes Kino.
Mila erinnert sich daran, wie sie stundenlang auf dem Schoß einer älteren Bauersfrau saß, die den Badehausofen heizte und den Kindern die Läuse aus den Haaren kämmte. Eine der Lehrerinnen, Marija Nikolajewna Charlamowa, übte in ihrer Freizeit stundenlang mit meiner Mutter russische Literatur und Geschichte.
Als meine Mutter und ich an Marija Nikolajewnas Tür klopften, erkannte sie meine Mutter sofort und brach in Tränen aus.
»Milotschka! Bist du es wirklich?«, wiederholte sie immer wieder, als sie sich in den Armen lagen.
Marija Nikolajewna machte umständlich Tee für uns und setzte uns hausgemachte Marmelade vor. Als wir dann am Küchentisch saßen, ging sie stapelweise alte Papiere durch, bis sie einen kleinen Umschlag mit Zeitungsausschnitten über Ljudmila fand, die sie aufbewahrt hatte: die Nachricht ihrer Aufnahme an der Moskauer Universität und ein Artikel über ihren Abschluss mit einem »Roten Diplom« – entsprechend einem »summa cum laude«.
»Ich war so stolz auf dich!«, flüsterte Marija Nikolajewna und sah mit der Genugtuung einer alten Mutter über den wackeligen Tisch hinweg ihre Vorzeigeschülerin an. »Ich war auf euch alle stolz.«
Mila musste Saltykowka immer wieder für Monate verlassen und im Botkin-Krankenhaus im Zentrum von Moskau schmerzhafte Operationen an Bein und Hüfte über sich ergehen lassen. Die Tuberkulose in ihrer Kindheit hatte ihr linkes Bein
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