Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
damit in Moskau junge Mädchen spazieren, ein Zeitvertreib, der Warwara, als sie schließlich davon erfuhr, vor Eifersucht explodieren ließ. Jakows neue Position als Leiter des neuen Raketenprogramms der Sowjetunion eröffnete seiner Familie eine Welt der Privilegien, die mit ihren armen Verwandten zu teilen sie es nicht eilig hatten. Für Lenina und Ljudmila dauerte das graue Einerlei der entbehrungsreichen Kriegszeiten auch nach dem Krieg noch jahrelang an. Doch es wurden jede Menge fröhlicher Paraden mit protzigen Losungen und Transparenten veranstaltet, und alle waren erfüllt von Stolz und dem Gefühl, etwas erreicht zu haben. Wenn Lenina mit Sascha – die Brust voller Orden – und ihrer neugeborenen Tochter Nadja spazieren ging, spürte sie, dass sie endlich den Trümmern ihrer Kindheit entkommen war.
Boris Bibikow sollte laut seinem offiziellen Urteil – »zehn Jahre Gefängnis ohne Recht auf Korrespondenz« – im Juni 1947 aus dem Gefängnis entlassen werden. Obwohl es höchst unwahrscheinlich war, dass er die Lager und den Krieg überlebt hatte, gab Lenina die Hoffnung auf seine Rückkehr nicht auf.
Selbst nach allem, was sie durchgemacht hatte, bewahrten sich die Bibikows einen naiven Glauben an die grundsätzliche Rechtschaffenheit des sowjetischen Systems. Wie Zigmillionen anderer Angehöriger der Opfer der Säuberungen glaubten sie, dass ihrem Angehörigen ein Unrecht widerfahren war, das eine Ausnahme darstellte. Boris’ Mutter Sofija schrieb Briefe an das Innenministerium und erkundigte sich darin nach Neuigkeiten von ihrem Sohn, im unerschütterlichen Glauben, das Recht würde früher oder später siegen. Jahrelang erhielt sie keine Antwort, gab die Hoffnung aber nicht auf. Doch Boris’ Entlassungsdatum kam und ging ohne irgendeine Nachricht.
Im Winter 1948 war Lenina mit ihrem zweiten Kind schwanger und verbrachte ein paar Monate bei Saschas Mutter Praskowja in einem Dorf 30 Kilometer von Kaluga in Zentralrussland, wo es jede Menge frische Milch gab und die Dorffrauen sich um die kleine Nadja kümmern konnten, während Lenina auf das neue Baby wartete. Sascha studierte in Moskau Jura; immer am Samstagabend nahm er mit einem ramponierten Fahrrad, das er selbst repariert hatte, den Zug nach Kaluga, radelte (mit einem Bein) ins Dorf, verbrachte den Sonntag mit seiner Familie und radelte abends wieder zurück, um den Zug nach Moskau zu erwischen.
Eines Tages brachte Sascha einen Brief mit dem Poststempel »KarLag« mit. Er steckte in keinem Umschlag, sondern war zu einem Dreieck gefaltet und zusammengesteckt, wie es damals üblich war. Er war von Marta. Sie schrieb, sie sei im letzten Frühjahr aus dem Gefängnis entlassen worden und lebe in der Nähe des Lagers in »administrativem Gewahrsam«. Sie habe einen neugeborenen Sohn namens Wiktor. Der Vater des Kindes sei ein Priester, teilte sie mit, dem sie im Lager das Leben gerettet hatte. Doch er sei entlassen worden und zu seiner eigenen Familie im Altai in Sibirien zurückgekehrt.
Jetzt, schrieb Marta, warte sie auf die Erlaubnis, Kasachstan bald zu verlassen, doch sie fragte sich, wo sie hingehen sollte, da sie keinen Pass habe. Sie hob es zwar nicht ausdrücklich hervor, doch Lenina wusste, was ihre Mutter meinte – ihre Reisedokumente kennzeichneten sie als politische Gefangene, und sie durfte nicht näher als 101 Kilometer an einer größeren Stadt leben. In Leninas Wohnung in Moskau war wenig Platz, doch Saschas Mutter Praskowja bestand darauf, dass Lenina alles daransetzte, Marta nach Moskau zu holen. Lenina schrieb ihrer Mutter, sie solle die 101 Kilometer nicht beachten und so bald wie möglich zu ihnen in die Hauptstadt kommen. Sascha schickte den Brief bereits am folgenden Tag in Moskau ab.
Die Lokomotive fuhr rußend und dampfend in den Kursker Bahnhof ein. Da Schienenfahrzeuge knapp waren, bestand der Zug aus Viehwaggons anstatt Personenwagen. Marta hatte keine Fahrkarte für den normalen Zug ab Semipalatinsk kaufen dürfen, weil sie keine Papiere besaß, und so geriet sie auf einen außerplanmäßigen Zug voller menschlichem Treibgut ohne Pass wie sie selbst. Bei der Abfahrt hatte sie ihrer Tochter ein kurzes Telegramm geschickt und ihre Ankunft angekündigt. Der Zug spuckte Ströme schmuddeliger Reisender aus, die meisten ehemalige Häftlinge, erschöpft und stinkend nach der fünftägigen Reise.
Eines der wenigen Fotos von Ljudmila im Waisenhaus von Saltykowka bei Moskau, zwischen Operationen an ihrem
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