Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
eine Panzerabwehrmine, Saschas Bein wurde zerfetzt und musste mit einer Holzsäge unterhalb des Knies amputiert werden. Er wurde zur Genesung in eines der riesigen Militärkrankenhäuser in Iwanowo geflogen. Von dort aus schrieb er Lenina einen merkwürdigen Brief. Er teilte seiner Verlobten mit, er sei in ein Feuer geraten und nun verbrannt und entstellt, und sie solle sich jemand anderen zum Heiraten suchen. Als sie den Brief gelesen hatte, lief Lenina zu ihrem Onkel. Jakow ließ seine Beziehungen spielen und organisierte Lenina einen Platz in einem amerikanischen Transportflugzeug nach Iwanowo. Er wies die Crew an, sich darauf einzustellen, einen Verwundeten nach Moskau zurückzufliegen. Lenina fand das Krankenhaus und dort im Innenhof Sascha in Unterwäsche und auf Krücken, nicht verbrannt, aber mit nur einem Bein. Lenina brachte ihn nach Moskau zurück, und drei Monate später heirateten sie. Sie war 19, er 26. Merkwürdigerweise kann sich Lenina heute, nach fast vier Jahrzehnten Ehe, nicht erinnern, welches Bein er verloren hatte.
Ich erinnere mich an Saschas überwältigend maskuline Präsenz, seine kräftigen Kiefer und seine Entschlossenheit, sein explosives Lachen und seine Art, die keinen Unsinn duldete. Er war in vieler Hinsicht der perfekte sowjetische Mann, schroff und fröhlich, immer das Gute sehend, selbst wenn er – wie alle Sowjetbürger ständig – mit Inkompetenz und Hässlichkeit konfrontiert wurde.
In vieler Hinsicht war er, glaube ich, das Gegenteil seiner jungen Schwägerin Ljudmila. Sie war ehrgeizig und kompromisslos, versuchte immer, die Welt um sich herum zu formen. Er war mit einfachen Freuden zufrieden: der Respekt seiner Freunde und Kollegen, seine kleine Wohnung, seine Datscha, die er eigenhändig aus geschnorrten Brettern und Ziegelsteinen gebaut hatte. Er kannte auch die Macht seines guten Aussehens. Es war, als fühlte Sascha, dass seine Männlichkeit eine Gabe sei und er die Pflicht habe, sie mit einer ganzen Generation Frauen zu teilen, für die Männer knapp waren. Aber er gab Lenina, die furchtbar eifersüchtig war, nie Grund, Untreue zu vermuten. »Vielleicht war er untreu«, sagte sie immer anerkennend über ihn, »aber dann sorgte er dafür, dass ich niemals etwas davon erfuhr.«
In den letzten Monaten des »Großen Vaterländischen Krieges« war Moskau völlig ausgeblutet. Ganz im Westen kämpfte die Rote Armee sich durch Ostpreußen, um noch vor den Westalliierten in Berlin zu sein. Doch zu Hause kämpften die Frauen und Kinder in den Ruinen eines von den Kriegsanstrengungen zerstörten Landes einen sehr viel banaleren Krieg gegen Hunger und Kälte. Sie sorgten sich um ihre Männer an der Front, und die Angst vor furchtbaren Nachrichten wurde noch heftiger angesichts der Gewissheit des nahen Sieges.
Die Straßen waren voller Männer in Uniform, die Abende dunkel, weil das Licht, wie alles andere auch, rationiert war. Das Leben war wie in der Schwebe, alle warteten auf das Ende des Krieges, konzentrierten sich aufs Überleben und wagten nicht, an die Zukunft zu denken. Das tägliche Dasein drehte sich um die kleinen Lebensmittelkarten und die Gerüchte. Warwara und ihre Tochter standen stundenlang an Straßenecken Schlange in der Hoffnung auf angekündigte Lebensmittellieferungen; Lenina schnorrte in den Entbindungskliniken Milch für ihre immer hungrige kleine Schwester Ljudmila. Abends saßen Lenina und Sascha vor ihrem großen Radio und hörten zu, wie der Sprecher reihenweise sowjetische Siege an Orten mit deutsch klingenden Namen verkündete, und empfanden gerechte Freude.
Lenina freute sich ganz egoistisch, dass ihr Sascha lebte, anders als die Liebsten so vieler ihrer Freundinnen auf dem Flugfeld Chodinskoje. Das junge Paar bekam eine Wohnung im Keller eines vorrevolutionären Gebäudes in der Gerzenstraße. Sie war winzig, und die kleinen Fenster lagen hoch oben in der Wand, doch es war Leninas erstes Zuhause seit ihrer Kindheit, und sie war entschlossen, es ihrer neuen kleinen Familie gemütlich zu machen.
Die Küche wurde Leninas Königreich, und Essen war die Währung ihrer Liebe. Sie fing auf dem kleinen Herd in der Gerzenstraße an, selbst zu kochen, und ein ganzes Leben später saß ich in der Küche meiner Tante am Frunsenskajaufer, und sie machte mir dieselben Gerichte, die sie für Sascha zu kochen gelernt hatte – Sauerkrautsuppe, Erbsensuppe, Rinderkoteletts und Bratkartoffeln. Wenn ich aß, wartete sie gespannt auf ein Zeichen meiner
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