Winterland
fast fünf Kilometer. Es gab noch ein paar Sommerhäuser in der Nähe, aber dort hatten sie keine Elektrizität, und deshalb übernachtete im Winter auch niemand dort.
Es war ein früher Winter. Der Schnee war gekommen, um zu bleiben.
Übermorgen war Weihnachten. Ich empfand keine Freude darüber. Ich empfand über gar nichts Freude. Meine Mutter war im Herbst gestorben, und mein Vater und ich hatten die Wohnung in der Stadt verlassen und waren hierher gezogen. Es war der Entschluss meines Vaters gewesen, aber ich hatte nichts dagegen. Er hatte gesagt, er hielte es in der Wohnung einfach nicht mehr aus, mit all den Erinnerungen ständig vor Augen, und jede Stunde zu Hause sei die Hölle. Ein Bekannter von uns hatte dieses Haus im Wald; es stand zufällig leer, hatte aber Elektrizität und einen Herd und einen Kühlschrank.
Einen Kilometer den Weg hinunter war eine Schulbushaltestelle, und mein Vater versuchte, tagsüber zu Hause zu schreiben, aber ich war sicher, dass er nicht viel zustande brachte. Er schrieb irgendwelche Werbung, und ich verstand nicht, wie er über die verschiedenen Dinge, die die Leute kaufen sollten, positiv schreiben sollte, wenn doch vor nur zwei Monaten all das Schreckliche geschehen war.
Meine Mutter hatte wie alle anderen gelebt, und dann war sie gestorben. Von einer Stunde auf die andere war es passiert, sie war für uns nicht mehr da. Ich wusste, dass sie es … selbst getan hatte. Dass sie nicht mehr leben wollte. Aber ich wusste nicht warum. Ich begriff wohl, dass es mit meinem Vater zu tun haben musste, aber nicht wie, und ich würde niemals fragen.
In der Schule saß ich meist da und träumte oder tat, was ich konnte, um an gar nichts denken zu müssen.
Wir versuchten, uns mit dem Essen irgendwie zu behelfen. Wenn jemand gefragt hätte, was wir gerade gegessen hatten, hätten wir uns nicht erinnern können. Aber es fragte niemand. Die Leute, die wir kannten, wussten, dass wir allein sein wollten. Das war irgendwie schön. Manchmal klingelte das Telefon und mein Vater ging ran, und ich konnte seine Stimme hören, wie wenn im angrenzenden Zimmer ein Radio läuft, ganz leise, ohne dass man einzelne Worte verstehen konnte. Nur ein Laut, wie ein lang gezogenes murmelndes Signal. Damals war unser Leben wie dieses Signal.
Nachts konnte ich daliegen und auf Geräusche horchen, wenn mein Vater nach dem Abendessen in der Küche in seinem Zimmer im zweiten Stock zu Bett gegangen war. Ich wusste, dass er wieder angefangen hatte zu trinken, aber er versuchte, es bei ein paar Bier jeden Abend oder ein paar Glas Whisky, wenn ich schlafen gegangen war, bewenden zu lassen. Der Geruch des Whiskys zog durchs ganze Haus, von der Küche, in der mein Vater saß, durch die geschlossene Tür in das Zimmer, in dem ich schlief. Ich nannte es niemals »mein Zimmer«. Es gab dort nichts, was ich hätte mitnehmen wollen, wenn wir wieder in die Stadt zurückkehrten.
Das Haus lag am Ende der Straße. Dahinter gab es nur den Wald. Es hatte zwei Tage lang kräftig geschneit, und der Bauer, der sich um die Straße kümmerte, war zweimal täglich mit dem Schneepflug gefahren. An diesem Abend war er sehr früh dran gewesen und bis vors Haus gefahren. Mein Vater war rausgegangen und hatte das Auto umgeparkt, so dass der Bauer vor dem Haus mit dem Pflug einen kleinen Kreis beschreiben konnte.
Vor einer Stunde dann hatte der Schnee aufgehört, vom schwarzen Himmel zu fallen. Ich hatte gesehen, wie es langsam immer weniger geworden war, bis der Wind keine Flocken mehr hatte, die er draußen vor dem Fenster herumjagen konnte. Jetzt hörte ich meinen Vater in der Küche eine Flasche Bier öffnen.
»Zeit, ins Bett zu gehen, Kalle.« Ich hörte, wie er das Bier ins Glas goss. »Es ist schon nach zehn.«
»Nur noch ein bisschen«, antwortete ich.
Er schurrte mit dem Stuhl über den Boden. Ich erriet, dass er sich über den Tisch beugte, um aus dem Küchenfenster sehen zu können.
»Es hat wohl aufgehört zu schneien.«
Ich antwortete nicht. Ich dachte plötzlich an Weihnachtsgeschenke, und dass ich meinem Vater noch nichts gekauft hatte. Ich wusste nicht, ob er etwas für mich besorgt hatte. Vielleicht die Schlittschuhe, die ich mir gewünscht hatte. Aber das war vor dem Tod meiner Mutter gewesen. Jetzt bedeutete es nichts mehr. Ich dachte nicht an Eishockey. Ich wollte nicht mehr dabei sein und spielen. Vielleicht würde es nächstes Jahr anders sein, aber ich war mir da nicht so sicher.
Am Abend vor
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