Winterland
sehen. Es war schon bald Februar, und man hatte den Eindruck, als hätte die Kälte noch einmal angezogen. Noch eine Runde, und noch eine. Ich sah Birgitta Sonesson vor mir, wie sie Runde um Runde im selben Tempo drehte. Sehr viel Eiszeit. Der Vorteil in so einem kleinen Club musste ja wohl sein, dass alle viel Eiszeit zur Verfügung hatten und man sich nicht um die Trainingseinheiten streiten musste.
»Hatte sie Umgang mit irgendwelchen Leuten aus dem Club?«, fragte Munter erneut.
»Nein«, antwortete Birgitta Sonesson.
»Sie kannte also keinen von ihnen?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Seit wann sind Sie in dem Club?«
»Seit, ähm, seit vier Jahren. Vielleicht fünf.«
»Das ist ein etwas ungewöhnlicher Sport«, meinte Munter.
»Für mich nicht«, erwiderte sie.
»Wir müssen mit allen Kontakt aufnehmen, die im Club sind«, sagte Munter. »Können Sie uns dabei helfen?«
»Natürlich.« Ich merkte, wie sie zögerte. »Darf ich fragen warum?«
Wir erhielten eine Liste über alle Mitglieder, aktive und passive.
»Wenn man einen Wettkampf sieht, dann ist es nicht immer leicht, die Aktiven von den Passiven zu unterscheiden«, meinte Munter und betrachtete die Namen.
»Wann sehen Sie denn einen Wettkampf?«, fragte ich.
»Niemals«, antwortete er auf diese selbstverständlich unlogische Weise, an die ich mich zu gewöhnen begonnen hatte.
»Haben Sie bemerkt, dass sie von ihrer Freundin in der Vergangenheit gesprochen hat?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete Munter, »sie hat anscheinend die Hoffnung aufgegeben.«
»Aber zum Training geht sie trotzdem«, sagte ich. »So verzweifelt ist sie dann wohl doch nicht.«
»Vielleicht ist das das Einzige, was sie noch aufrichtet«, sagte Munter. »Für diese Leute ist Training wie eine Droge. Endorphine. Ohne Training geht alles völlig den Bach runter. Training hat ja mit Trauer nichts zu tun.« Er sah auf.
»Ein Heroinabhängiger hört ja auch nicht mit der Scheiße auf, nur weil Tante Emma gestorben ist, oder?«
»Nun ist Annie Lundberg für Birgitta Sonesson wohl kaum eine Tante Emma«, warf ich ein.
»Sie wissen schon, was ich meine, Berger.«
Ich war mir da nicht so sicher, aber ich ließ das Thema ruhen und wandte mich wieder den Listen zu.
Es war ein kleiner Club, und wir hatten schon bald alle Aktiven durch. Soweit wir feststellen konnten, hatten sie alle noch ihren Kopf auf den Schultern. Fehlte irgendeine Person, die früher einmal Mitglied war? Nein.
Wir arbeiteten uns durch die Aufzeichnungen über die passiven Mitglieder und ließen sie alle links liegen, weil sie alle noch lebten.
Wir suchten nach früheren Mitgliedern. Wir führten viele Telefongespräche und hatten fast keine zusätzlichen Leute zu unserer Unterstützung.
Wir fanden keine Frau, die einmal Mitglied in diesem Club gewesen und jetzt verschwunden war. Es fehlte niemand.
Langsam hatte ich das Gefühl, dass wir auf der falschen Spur waren, auf der völlig falschen Spur. Und dass ich uns in gewisser Weise in die Sackgasse gesteuert hatte, als ich Birgitta Sonesson beim Eislaufen sah. Ich hätte niemals auf dieses verdammte Pfeifen hören sollen, als ich mit meinen Skiern auf der Schulter aus der Trainingsanlage kam.
Wir hatten keinen Mörder, und jetzt verschwand langsam auch noch das Opfer. Manchmal war es, als hätte die ermordete Frau niemals existiert, aber für einen physischen Beweis ihrer Existenz musste ich nur in das kalte und einsame Leichenschauhaus gehen. Ihr Körper war da. Wo war ihr Kopf?
Und noch einmal: Wo war Annie Lundberg?
Wir saßen in meinem Zimmer und sahen aus dem Fenster: Die Kälte kroch über Bäume und Büsche und erfüllte die Luft mit einem schweren Rauch. Die Temperatur war noch weiter gesunken. Heute Morgen hatte ich kaum das Auto in Gang bekommen.
»Bald ist es wie in Sibirien«, meinte Munter. »Wenn man durch so verdammt kalte Luft geht, dann hinterlässt man Abdrücke.«
»Werden Trainingseinheiten eigentlich gefilmt?«, fragte ich.
»Wie?«
»Werden Trainingseinheiten gefilmt?«, wiederholte ich. »Gehört es zu den modernen Trainingsmethoden, solche Einheiten zu filmen?«
»Keine Ahnung«, sagte Munter. »Aber ich weiß, was Sie meinen.«
»Ich werde mit dem Sekretär im Club sprechen«, meinte ich.
»Aber es gibt doch niemanden, nach dem wir suchen könnten«, sagte Munter. »Wir sind schließlich alle denkbaren Kandidaten durchgegangen.«
»Trotzdem«, sagte ich.
Ich fuhr zur Eislaufbahn hinaus. Es war, als
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