Winterlicht
und als die Sonne aufging, hatten sie den Pass erreicht, der Belegonia vom benachbarten Osteria trennte. Es war ein Felstunnel, der in Jahrhunderten in den Stein gehauen worden war. Finnikin führte als Erster sein Pferd in den niedrigen, engen Eingang. Er tastete sich mit den Händen an den Steinwänden entlang. Der Boden war übersät mit herabgestürzten Felsbrocken, und seine Füße verloren ständig den Halt auf diesem halsbrecherischen Pfad. Als er auf der anderen Seite wieder das Tageslicht erblickte, schmerzten seine Augen, doch er sog die Luft begierig und unendlich erleichtert ein.
Die Hauptstadt von Osteria lag der Hauptstadt von Lumatere am nächsten. Die beiden Königreiche waren die kleinsten im ganzen Land und lagen nur einen knappen Tagesritt voneinander entfernt. Als sie von Westen kommend über die Berge ritten, sah Finnikin in der Ferne die Palasttürme von Osteria. Der Palast war klein und lag in einem Tal in der Mitte des Reiches, umgeben von sechzehn Hügeln, von denen aus man Osteria gegen Belegonia im Westen, Sorel im Süden und Charyn im Norden und Osten verteidigen konnte. Im Hügelland lebten Völker, die schon seit den Zeiten der Götter dort ein völlig unabhängiges Leben führten. Wächter, die für den Frieden im Land sorgten, hatten stets ein wachsames Auge auf sie, aber Finnikin vermutete, dass diese Wächter auch die Charyniten beobachteten, deren Land hinter einem kleinen Flüsschen im Norden begann.
„Ach, Evanjalin, wo bist du nur?“, seufzte Sir Topher, als sie ihre Pferde in einem Tal rasten ließen. Finnikin war überrascht gewesen, dass sein Mentor am Abend zuvor mit Trevanion, Perri und Moss auf ihn gewartet hatte.
Der zukünftige Regent von Lumatere wäre im Tal der Stille von den Männern der Garde gut beschützt gewesen.
Aber Sir Topher war felsenfest entschlossen, Evanjalin und Froi zu suchen. Finnikin war sein tadelnder Blick unterwegs nicht entgangen.
„Sie hat uns Lügen über den König erzählt“, sagte er leise zu Sir Topher, während die anderen ausschwärmten, um das Gelände zu erkunden.
Sir Topher schwieg einen Augenblick. So vieles hatte sich verändert, seit sie vor Monaten den Felsen zum Kloster in Sendecane hinaufgestiegen waren. So viel war geschehen. Es hatten sich mehr aufwühlende Dinge ereignet als in den vergangenen zehn Jahren.
„Du wolltest, dass Balthasar lebt, Finnikin“, sagte Sir Topher verständnisvoll. „Er war dein Freund, du hast ihn geliebt, und in den Augen des Kindes, das du damals warst, erschien er dir wie ein mächtiger, unbesiegbarer Krieger.“
Finnikin kam sich einfältig und dumm vor. „Ich weiß, es klingt unwahrscheinlich, dass jemand, der damals noch so jung an Jahren war, diese entsetzlichen Ereignisse überlebt haben könnte. Aber auch Evanjalin und Froi, ja sogar ich, haben in großer Gefahr geschwebt und trotzdem überlebt. Also warum nicht auch Balthasar? Ich habe tatsächlich gehofft, dass er jene Nacht im Wald von Lumatere irgendwie überstanden haben könnte.“
„Weißt du, was ich denke?“, fragte Sir Topher mit Tränen in den Augen. „Prinz Balthasar hat in jener Nacht eine Entscheidung getroffen. Er war ein Krieger der Götter. Du wolltest aus den ehrenhaftesten Gründen, dass er noch lebt, mein Junge. Aber am meisten hast du es dir gewünscht, weil du das Unausweichliche gefürchtet hast.“
Finnikin schwieg auch dann noch, als Trevanion und seine Männer zurückkehrten. Am grimmigen Gesichtsausdruck seines Vaters konnte er ablesen, dass sie oben auf den Hügeln mehr gesehen hatten als nur die schöne Aussicht auf Osteria.
„Bring uns gute Nachrichten, Trevanion“, beschwor ihn Sir Topher.
Trevanion schüttelte den Kopf, sein Mund war schmal. „Von unserem Aussichtspunkt aus hatten wir einen guten Blick auf den Fluss bis nach Charyn hinein. Wir haben Soldaten am Ufer gesehen. Mindestens fünfzehn Mann. Sie hatten Schwerter in den Händen. Und zu ihren Füßen kauerten Flüchtlinge.“
„Gütige Göttin“, stöhnte Sir Topher.
„Ich habe mindestens vierzig Leute gezählt“, sagte Moss.
„Was macht euch so sicher, dass es tatsächlich Vertriebene aus Lumatere sind?“, fragte Finnikin. „Könnten es nicht auch Charyniten sein, die am Fluss lagern?“
„Nein, es sind Vertriebene“, versicherte Moss.
„Und Evanjalin? Und Froi?“, wollte Sir Topher wissen.
Trevanion schüttelte den Kopf.
„Können die Leute sich frei bewegen?“, fragte Sir Topher. „Seid ihr sicher, dass sie
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