Winterlicht
Vorstellungskraft und der Verstand der Sterblichen.“
Ihre Worte konnten Finnikin nicht umstimmen. Schroff drehte er ihr den Rücken zu. Er hörte das Rascheln des Laubes, als sie wegging, und er drehte sich erst wieder um, als nichts mehr zu hören war.
Froi sprang von Finnikins Pferd und sah stumm zu ihm hinauf, dann zu den anderen, dann in die Richtung, die Evanjalin eingeschlagen hatte. Er nahm sein Bündel und legte es sich über die Schulter.
„Sie und ich. Wir sind uns ähnlich. Wir sind am Leben. Die anderen, die Waisen von Lumatere, die sind tot. Sie und ich, wir wollen leben. Dafür tun wir alles. Das ist der Unterschied zwischen uns und denen. Ich hab sie gesehen. Ich hab gesehen, wie die Leute aus Lumatere gestorben sind. Wisst ihr, was ich tun würde, um weiterzuleben? Alles. Versteht ihr? Alles. Genau wie sie.“
Froi drehte sich um und folgte Evanjalin. Und diesmal schien er genau zu wissen, welchen Weg er nehmen musste.
Eine Meile von der Heimat entfernt hielt Finnikin an. Vor ihm erstreckte sich die Hügelkette. Von dort aus würde er ins Tal der Stille blicken können, das ihm immer wie ein üppiger grüner Teppich vorgekommen war, der zum Haupttor von Lumatere führte. Er fragte sich, wie es wohl sein würde, einen Blick ins Königreich zu werfen, bis hin zum Felsen der drei Wunder, an dem er einst mit seinen beiden Freunden das Gelübde abgelegt hatte, damals, als sie noch glaubten, es gäbe keine Grenzen für sie. Als sie noch glaubten, die Welt retten zu können. Seine Wunde pochte schmerzhaft, so als wäre das Blut, das er und die anderen vor zehn Jahren geopfert hatten, hier im Boden versickert und hieße ihn nun zu Hause willkommen.
Zu Hause.
„Finn? Nur noch über den Hügel“, sagte Trevanion.
Finnikin sprang vom Pferd und sah hinauf zu dem Ort, an dem er zum letzten Mal zur Göttin gebetet hatte. „Reite mit dem Priesterkönig weiter“, sagte er leise. „Unser Volk braucht ihn.“
„Und du?“, fragte Trevanion.
Finnikin schüttelte den Kopf. „Ich möchte hier nur eine Weile sitzen bleiben.“
Trevanion trat neben ihn. „Dann setze ich mich dazu.“
„Nein.“ Finnikin schüttelte energisch den Kopf. „Die Leute wollen den Hauptmann der Garde sehen. Sie haben den weiten Weg auf sich genommen, jetzt brauchen sie jemanden, der ihnen Hoffnung gibt.“
Finnikin wandte sich an den Priesterkönig, der auf Perris Pferd saß. In den Augen des alten Mannes lag tiefe Trauer. „Verehrungswürdiger Barakah, was hat das Wort ,Resurdus‘, das aus der alten Sprache stammt, zu bedeuten?“, fragte Finnikin, obwohl er die Antwort ja bereits kannte.
„König“, sagte der alte Mann.
Finnikin nickte.
Trevanion schwang sich in den Sattel. „Steig auf diesen Felsen, Finn“, sagte er mit fester Stimme. „Wenn du wiederkommst, erwarte ich dich hier.“
Finnikin wollte schon losgehen, aber als Perri zu sprechen begann, blieb er stehen.
„Krieger. Anführer.“
Finnikin drehte sich um und sah Perri fragend an.
„Ich hatte mal ein e … Freundin, die die Sprache der Vorfahren verstand“, sagte Perri mit versteinerter Miene. „Ich fragte sie, wie man Krieger in dieser Sprache nannte. Es war das einzige fremde Wort, das ich je wissen wollte. Es heißt Resurdus. Als die Götter noch auf der Erde wandelten, waren Könige Krieger. In anderen Dialekten jedoch bedeutet dieses Wort Anführer.“
Finnikin sah ihnen nach, als sie davonritten. Dann stieg er auf den Hügel. Er hatte der Göttin ein Opfer versprochen, wenn sie Evanjalin am Leben ließe, und dort oben auf dem Hügel stach er wieder in seine alte Wunde und sah zu, wie sie blutete.
Das Dunkle wird dem Hellen vorangehen und unser Resurdus wird wiederauferstehen.
Finnikin schwor feierlich, der Weissagung zu folgen, die vielleicht schon immer ihm gegolten hatte.
Aber auf sein Opfer folgte weder eine Eingebung noch fühlte er inneren Frieden oder Glück.
Die Göttin zürnte. Was sie ihm sagen wollte, war klar. Er hatte noch nicht genug getan.
Als er vom Hügel herabstieg, war es beinahe dunkel. Zusammen mit seinem Vater erwarteten ihn Perri und Moss und Sir Topher. Finnikin schwang sich auf sein Pferd. Wortlos kehrte er sich vom Tal der Stille ab und schlug jenen Weg ein, von dem der Priesterkönig einst gesagt hatte, er sei mit Blut getränkt, aber er führe ans Ziel.
Der Weg, der sie zur Novizin Evanjalin führte.
Und die anderen folgten ihm, ohne zu fragen.
Kapitel 21
S ie waren die ganze Nacht durchgeritten,
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