Winterlicht
unter Bewachung stehen?“
„Sie haben die Männer von den Frauen getrennt“, sagte Perri bitter. „Das hat nichts Gutes zu bedeuten.“
„Seit wann werden die Flüchtlingslager bewacht?“, fragte Sir Topher.
„Seit es Gerüchte über eine Rückkehr des Königs gibt“, antwortete Trevanion. „Wenn es etwas gibt, was das königliche Haus von Charyn mehr als alles andere fürchtet, dann die Kunde, dass der Fluch von Lumatere aufgehoben ist und der Thronräuber die Wahrheit enthüllt. Für Charyn sind alle Vertriebenen eine Bedrohung.“
„Wir müssen den Fluss überqueren und die Soldaten überrumpeln“, sagte Perri. „Sie sind geschwächt von Bier und Langeweile. Ich sehe doch, wie träge sie sich bewegen.“
„Aber da ist noch etwas. Wir haben Besuch“, sagte Moss und zeigte auf einen kleineren Hügel im Osten. Finnikin folgte seinem Blick und sah dort einen Menschen kauern.
„Vielleicht gehört er zu einem der abgeschieden lebenden Stämme“, sagte Finnikin. „Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn sie von einem Ort zum anderen über die Berge zöhen.“
„Das ist kein Reisender, Finnikin. Er ist ein Spion. Er kundschaftet die Charyniten und das Lager aus. Es kümmert ihn nicht, dass wir wissen, wo er ist, aber er will nicht von den Soldaten auf der anderen Seite des Flusses gesehen werden.“
Finnikin hielt sich die Hand schützend vor die Augen und versuchte nachzudenken. Er beobachtete den Fremden. Jetzt war der junge Mann aufgestanden. Er war beinahe so groß wie Finnikin, aber stämmiger. Er trug Kleider aus Tierfellen. Er schien so angriffslustig und überheblich, dass sich Finnikins Nackenhaare sträubten. Es war, als spürte der junge Mann Finnikins Zorn, denn er zog einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken, legte den Langbogen an, hob ihn auf Augenhöhe und zielte direkt auf Finnikin.
„Reize ihn“, forderte Trevanion seinen Sohn auf und zielte mit seinem Bogen auf den Eindringling. „Mal sehen, wie er reagiert.“
Finnikin nahm einen Pfeil mit stumpfer Spitze aus seinem Köcher. „Soll ich auf ihn schießen?“
„Nein, das können wir immer noch, falls er angreift. Er scheint sich um uns andere nicht zu kümmern. Versuch ihn auf irgendeine Art zu reizen.“
Finnikin überlegte einen Augenblick, dann hob er die Hand, legte zwei Finger zusammen und versetzte seiner Nase oben am Ansatz einen Stoß.
Die anderen sahen ihm amüsiert zu. Trevanion und Perri lachten sogar laut auf.
„Wenn mich nicht alles täuscht, dann fordern die Flussbewohner gewöhnlich mit dieser Geste ihr Gegenüber dazu auf, etwas sehr Unanständiges mit der eigenen Mutter zu tun“, sagte Moss spöttisch.
„Als ich noch klein war, habe ich gesehen, wie ihr das alle gemacht habt“, erwiderte Finnikin grinsend.
„Du musst etwas anderes versuchen“, sagte Perri. „Der Kerl lässt sich dadurch nicht reizen. Es ist eine Beleidigung, die nur jemand aus Lumatere versteht. Im Rest des Landes kennt sie niemand.“
„Darauf können wir stolz sein“, bemerkte Sir Topher trocken.
Die Männer lachten wieder, aber als plötzlich ein Pfeil ganz dicht vor Finnikins Füßen einschlug, suchten sie sofort Deckung hinter Felsen und spannten ihre Waffen.
„Bastard!“, murmelte Finnikin.
Mit dem Rücken an die Felsen gelehnt standen sie da und warteten. Und dann fiel es ihnen plötzlich auf.
„Er hat die Geste verstanden!“
„Vielleicht gehört er zu den Flüchtlingen?“
„Und wieso trägt er dann Waffen?“
Finnikin kroch zu seinem Sattelzeug und holte einen ockerfarbenen Stein hervor, dann zog er einen Pfeil aus seinem Köcher und gab ihn seinem Vater.
„Halte ihn, während ich schreibe.“
Quer über den Pfeilschaft kritzelte er die Worte „Finnikin von den Felsen“, ehe er seine Deckung verließ, den Pfeil anlegte und schoss. Zufrieden sah er, wie der junge Mann einen Satz zurück machte. Seine Haltung verriet, dass er alles andere als glücklich darüber war, wie knapp der Pfeil zwischen seine Beine gefahren war. Er nahm den Pfeil und starrte darauf. Dann verschwand er und tauchte zur Enttäuschung aller auch nicht mehr auf.
„Wir gehen hinunter zum Ufer“, beschloss Trevanion. „Wir bitten die Charyniten höflich, die Vertriebenen auf unsere Seite des Flusses zu lassen.“
„Verlang aber von mir keine allzu große Höflichkeit“, brummte Perri, als sie zum Fluss hinabstiegen.
Sie standen am Ufer, keine fünf Schritte von der Stelle entfernt, an der die Charyniten die Vertriebenen
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