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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melina Marchetta
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den Wunsch, so viel Schmerz wie möglich zuzufügen, den Wunsch zu zerstören.
    Er stürzte sich mit all seiner angestauten Wut auf Lucian. Jeder Schlag, mit dem er den Mont im Gesicht oder am Körper traf, löste die Taubheit, die er seit Perris Enthüllung auf der Wiese verspürt hatte. Aber Finnikin wusste auch: Es war mehr als nur die Wut, die ihn dazu brachte. Er spürte, dass Lucian von den gleichen Gefühlen angetrieben wurde. Lucian hatte ihn gerade außer Gefecht gesetzt, indem er ihm den Arm um den Hals gelegt hatte und das Knie genau gegen die Stelle seines Oberschenkels stemmte, an der sich die Narbe befan d – jene Narbe, die ihn immer an seinen Treueschwur erinnern würde.
    „Unser Volk ist immer zusammengeblieben“, schleuderte ihm Lucian entgegen. „Wir haben uns nicht vertreiben lassen. Und unsere Yata hat in jener Nacht fünf Enkelkinder und ihre Tochter verloren. Aus Kummer sprechen wir nicht mehr über unser Unglück, Höhlenmensch, nicht, weil wir uns selbst belügen.“
    Und schon gingen die beiden erneut aufeinander los, bearbeiteten sich mit Fäusten, bis ihre Wut schließlich verraucht war und sie in gegenseitiger Umklammerung zu Boden fielen.
    Finnikin wusste nicht, wie lange sie auf dem Rücken gelegen und in den Himmel geblickt hatten, Seite an Seite, doch ohne dass der eine die Gegenwart des anderen beachtete.
    „Komm“, sagte Lucian schließlich mit rauer Stimme. Er stand auf und reichte Finnikin die Hand. „Wir müssen uns säubern. Meine Yata zieht mir bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren, wenn sie uns so sieht.“

Kapitel 22

    A m Eingang zum Zelt der Yata knuffte Lucian Finnikin in die Seite und warf ihm einen warnenden Blick zu. „Sprich nicht von meinem Vetter und seinen Schwestern“, sagte er barsch. „Unsere Yata kommt dir vielleicht stark vor, aber diesen Verlust wird sie niemals verwinden.“
    Finnikin nickte, und nachdem Lucian einen Gruß ausgesprochen hatte, betraten sie das Zelt. Kerzen spendeten helles Licht und Blumen verströmten ihren Duft. Die Matriarchin der Monts saß da und spann, ihre langen, gelockten Haare schimmerten grau, aber der Blick ihrer dunklen Augen war scharf. Im übertragenen Sinne war sie die Yata aller Monts, aber vor allem war sie die Großmutter von Lucian und seinen Basen und Vettern. Sie blickte zu ihrem Enkel auf und lächelte und bedachte auch Finnikin mit einem freundlichen Nicken. Sie war immer noch die schöne Frau aus Kindertagen, an die er sich erinnerte. Früher war ihr Haar schwarz und ihre Statur stattlicher gewesen, aber es sprach noch der gleiche starke Wille aus ihren Augen wie damals.
    „Finnikin von den Felsen“, begrüßte sie ihn mit rauer Stimme.
    Wie schaffen es die Mont-Frauen, einen immer wieder zu verzaubern?, dachte Finnikin. Sie war fünfundsechzig Jahre alt, und trotzdem errötete er, als er ihre Stimme hörte.
    Er beugte sich vor, um sie dreimal auf die Wange zu küssen, wie es der Brauch der Monts war. Einen Kuss für den Gast, einen für den Gastgeber, den dritten für die Göttin, die unter ihnen weilte. „Mein Vater, seine Männer und Sir Topher begleiten mich.“
    „Dann kehren wir endlich nach Hause zurück?“ Sie riss mit den Zähnen einen Faden ab und legte ihre Handarbeit beiseite. Sie winkte den beiden näher zu treten. Lucian und Finnikin nahmen auf einer Felldecke Platz und sie schenkte ihnen kalten Tee ein und gab ihnen süße Teigfladen zu essen.
    „Zuerst kehren wir ins Tal der Stille zurück“, erwiderte Finnikin.
    „Sie haben noch eine von den Monts gefunden, Yata“, sagte Lucian. „Sie heißt Evanjalin und sie kann in die Träume der Menschen in Lumatere eindringen. Finnikin hat sie zu uns gebracht.“
    „Nein, sie hat mich hierhergebracht“, verbesserte ihn Finnikin.
    Die dunklen Augen der Yata weiteten sich vor Staunen. „Sie dringt bis nach Lumatere vor? Es muss eine unglaubliche Kraft in ihr wohnen“, sagte sie kopfschüttelnd.
    „Das behauptet sie jedenfalls“, sagte Finnikin. „Sie schwört, dass Lady Beatriss aus dem Tiefland noch lebt, ebenso die Novizinnen des Sagrami-Klosters und Tesadora und die Waldbewohner.“
    Yata schlug die Hand vor den Mund, ihre Finger zitterten. „Und wie wurden die Novizinnen gerettet? Was ist mit Lady Beatriss? Was wurde aus dem Kind?“
    „Das gemeinsame Kind von Lady Beatriss und meinem Vater ist tot, davon ist Evanjalin überzeugt“, antwortete Finnikin traurig. „Was die Novizinnen der Sagrami angeht: Sie wurden während

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