Winterlicht
der Fünf Tage des Unsagbaren in ein Versteck gebracht. Ich vermute, von Perri dem Wilden.“ Ihm entging nicht, dass die Yata trotz der Wärme in ihrem Zelt erschauderte. „Könnt Ihr mir mehr über die Gabe des Traumwandelns berichten?“
„Die Erste war Seranonna aus dem Wald“, sagte Lucians Großmutter leise. „Ich brachte gerade mein fünftes Kind zur Welt. Seranonna wohnte weit weg von den Monts, aber sie schwor, dass sie meine Schmerzensschreie gehört hatte, und so machte sie sich auf die Reise durch den Wald, ins Dorf, durch das Tiefland, über den Fluss in die Berge. Sie stand mir bei der Geburt meiner Tochter bei, einem schönen Mädchen, das einmal Königin werden sollte.“ Sie seufzte, und Finnikin sah, dass sich Lucian vorbeugte, bereit aufzuspringen, falls sie seine Hilfe brauchen sollte.
„Nachdem ich das Kind auf die Welt gebracht hatte, war ich lange Zeit krank, also blieb Seranonna bei mir. Sie hatte selbst gerade ein Kind bekommen, das schon nach einer Woche gestorben war, und sie hatte Milch. So kam es, dass meine kleine Tochter von einer Jüngerin der Sagrami und einer Jüngerin der Lagrami gestillt wurde. Jedes Kind, dem Seranonna bei uns auf die Welt geholfen hat, besitzt die Gabe des Traumwandelns.“
„Vielleicht sind Evanjalin und das Mädchen in ihren Träumen auch solche Kinder“, sagte Lucian.
„Das ist unmöglich“, erwiderte Finnikin. „Das kleine Mädchen kam erst auf die Welt, als Seranonna schon tot war.“
„Evanjalin wird beim Traumwandeln von jemandem begleitet?“, fragte Yata fasziniert.
„Ist das selten?“
Sie nickte. „Die meisten Frauen sind allein unterwegs. Allerdings bin auch ich manchmal mit meiner Tochter, der Königin, in fremde Träume gelangt. Vielleicht sind Evanjalin und das Kind eng verwandt.“
Als sie bemerkte, dass Finnikins Trinkschale leer war, deutete sie auf den Krug. „Und greif auch bei dem Fladenbrot tüchtig zu. Lucian ziert sich kein bisschen.“
Finnikin blickte zu Lucian hinüber. Der hatte den Mund voll und kaute, aber sein Blick signalisierte gespannte Aufmerksamkeit. „Wie ist sie, diese Evanjalin aus den Bergen?“, fragte Lucian.
Finnikin dachte einen Augenblick lang nach. „Sie ist star k – hier drin“, antwortete er und klopfte sich zweimal gegen die Brust. „Respekt einflößend. Mitleidlos. Listig. Sie kann einen Menschen so heftig lieben, wie ich es noch nie erlebt habe.“ Er lächelte, weil er sich dabei ertappte, dass er viel zu viel ausplauderte. „Und sie sieht aus wie eine Mont-Frau, sie ist wunderschön.“
„Ist sie dir versprochen, Finnikin?“, fragte die Yata und musterte ihn scharf.
„Nein“, antwortete er nach kurzem Zögern. „Aber sie ist in meinem Herzen. Ich vermisse sie sehr, und dass sie nicht da ist, macht mi r … Kummer.“ Wieder blickte er zu Lucian, der so tat, als wische er sich eine Träne aus den Augen. Finnikin fand, dass sie genug geredet hatten, und stand auf. Höflich verabschiedete er sich.
„Mein Enkel hat dich während all der Jahre sehr vermisst“, sagte die Yata.
„Balthasar?“
Lucian warf ihm einen vernichtenden Blick zu und Finnikin bereute seine unüberlegte Äußerung sofort.
„Es tut mir lei d …
„Nein“, die Yata lachte leise und streckte ihrem Enkel die Hand hin, damit er ihr aufhalf, „Lucian hat dich vermisst.“
„Hab ich nicht!“, widersprach Lucian trotzig.
Sie zog ihn am Ohr. „Ich schau doch in deine Träume, dummer Junge. Sie sind meist kein angenehmer Aufenthaltsort für deine Yata, aber es gibt immer wieder schöne Momente, die mich erfreuen.“
Lucian wurde rot. Seine Großmutter küsste sie beide, und Finnikin fühlte sich getröstet, als ihre Hände über sein Gesicht strichen. Lucian hatte als kleines Kind seine Mutter verloren, aber dafür hatte er seine Yata gehabt. Finnikin hatte stets eine Großmutter vermisst, trotz seiner Großtante Celestina und Lady Beatriss.
Die Herrin der Monts betrachtete aufmerksam Finnikins Gesicht, so als könnte sie in seinen Gedanken und in seiner Seele lesen. „Wenn ich dich sehe, wird mir warm ums Herz, Finnikin von den Felsen“, sagte sie. „Bring deine Evanjalin zu uns. Wenn sie euch hierhergeführt hat, dann möchte sie auch bei ihren Leuten sein.“
In dieser Nacht kroch Finnikin heimlich aus seinem Zelt. Er hörte Sir Topher schnarchen und auch alle Monts schienen zu schlafen. Er schlug die Arme um sich und machte sich zähneklappernd auf den Weg zu Lucians Zelt. Er wusste, was
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