Winterlicht
ausgesandt hatte, die ihn in den Palast baten, konnte sich Finnikin nicht überwinden, diesem Wunsch nachzukommen. Stattdessen widmete er seine gesamte Aufmerksamkeit der Aufgabe, die der Oberste Ratgeber ihm zugeteilt hatte: über das Schicksal eines jeden Einwohners von Lumatere auf der Grundlage der letzten Volkszählung zu berichten. Schweren Herzens begann Finnikin mit dem neuen Auftrag. Am Anfang war Finnikin nur jemand, der schmerzhafte Fragen stellte, am Schluss waren die Menschen froh, ihr jahrelanges Schweigen brechen zu können.
„Sprecht“, sagte er sanft, wo auch immer er hinkam. Dem Volk war zugestoßen, was seine Königin befürchtet hatte. Niemand hatte in den letzten zehn Jahren geredet. Man hatte nur ein paar Worte geflüstert, um zu überleben. Man hatte Flüche gemurmelt, von Plänen gewispert in der Nacht, manchmal auch Worte der Liebe gewechselt. Doch niemand hatte den anderen seine eigene Geschichte erzählt, bis Finnikin danach fragte.
In den folgenden Tagen hörte er zu. Er saß mit den Menschen am Tisch, wenn sie so viel Glück hatten, dass sie noch ein Dach über dem Kopf besaßen. Oder er arbeitete neben ihnen, wenn sie einen Pflug zogen, Heu einbrachten oder ihre Dächer mit Reet deckten. Er hörte die Leidensgeschichten von Menschen, die genauso gebrochen und zerstört waren wie das Land, das sie wieder aufbauten. Während dieser Zeit sah er mehr Tränen als in seinem ganzen bisherigen Leben, doch er hielt das Leben aller Lumaterer in seiner gleichmäßigen Schrift fest, damit es nie mehr in Vergessenheit geraten konnte. Vielleicht wird in den kommenden Jahrhunderten jemand diese Aufzeichnungen lesen, dachte er. Vielleicht würden sie als Abschreckung dienen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand, der diese furchtbaren Geschichten hörte, zulassen würde, dass so etwas noch einmal geschah. Niemals hatte er seine lumaterischen Gefolgsleute mehr geliebt als in den Momenten, in denen sie von ihren schrecklichen Erlebnissen erzählten.
„Wenn wir uns widersetzten oder wehrten“, erzählte ihm Jorge aus dem Tiefland, „kamen die Männer des Thronräubers am nächsten Tag wieder und sagten: ‚Wähle einen aus.‘“ Der Mann unterdrückte ein Schluchzen. „‚Wähle einen aus, der sterben soll. Wenn nicht, wird deine ganze Familie getöte t – das ganze Dorf.‘“
„Männer flehten auf Knien: ‚Nehmt mich, nehmt mich an ihrer Stelle‘“, erklärte Roison aus dem Flussland.
„Wir saßen zusammen und schmiedeten Pläne“, flüsterte Egbert von den Felsen. „Als Familie legten wir unter uns fest, wer geopfert werden sollte, falls man uns dazu zwingen würde. Es war besser, die Entscheidung zusammen und frühzeitig zu treffen, als im Moment des Unglücks, wenn für einen Abschied keine Zeit mehr blieb.“
„Also wählten Männer ihre Söhne aus?“, fragte Finnikin. Allein die Vorstellung, dass Trevanion eine solche Entscheidung hätte fällen müssen, machte ihn krank.
Der Mann sah ihn an und Tränen liefen über seine Wangen. „Nein“, sagte er und schüttelte den Kopf. „Kein Vater wollte seine Tochter zurücklassen, damit sie vergewaltigt und misshandelt wurde. Wir opferten unsere Töchter. Immer unsere Töchter.“
Wie Finnikin und Sir Topher erwartet hatten, war die königliche Schatzkammer nahezu unberührt geblieben. Der Fluch hatte den Thronräuber und seine Männer daran gehindert, das Gold zu verschwenden. Nun konnten Pferde und Ochsen in Osteria und Belegonia gekauft werden, eine wichtige Unterstützung beim Pflügen der Felder. Auch die Errichtung neuer Bauernhütten gehörte zu den wichtigsten Aufgaben. Osteria und Belegonia hatten angeboten, Arbeiter zu schicken, die beim Wiederaufbau halfen, doch Trevanion wollte keine Ausländer nach Lumatere lassen und ließ die Grenzen streng bewachen. In der ersten Woche brachte die Garde Obst und Gemüse aus Osteria mit und jagte in den Wäldern nach Wild. Am Ende der zweiten Woche wurde der Handelsverkehr auf dem Fluss wieder aufgenommen und die ersten Lastkähne kamen stromaufwärts aus Belegonia. Finnikin stand neben Sefton und den anderen Burschen und sah dabei zu, wie sein Vater das Löschen der Fracht beaufsichtigte. Trevanion und seine Garde hatten Haare und Bärte stutzen lassen. Der Hauptmann war fast wieder der Alte. Dennoch lag noch immer ein gequälter Ausdruck in seinem Gesicht. Finnikin wusste, dass es noch lange dauern würde, bis am Flussufer wieder Lieder gesungen wurden und Gelächter
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