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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melina Marchetta
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für immer fremd bleiben würde. Er hatte in einem Buch der Ahnen gelesen, dass man nach Jahren der Abwesenheit niemals wieder wirklich nach Hause zurückkehren konnte. War das sein Schicksal?
    Er schwang sich aufs Pferd und sie ritten durch das Land, dessen Erde noch schwelte. Sie folgten dem Wasserweg, der sich durchs Tiefland wand. Die verkohlten Stümpfe und astlosen Bäume wirkten wie Skelette, Gespenster des Todes. Bauernhäuser waren bis auf die Grundmauern abgebrannt und von den Frachtkähnen am Fluss war nichts weiter übrig als schwarze Holzbalken, die träge auf der stillen Wasseroberfläche trieben. Finnikin setzte sich mit seinem Vater ans Ufer. Über ihnen im Felsendorf tauchten Hunderte von Lumaterern auf.
    „Mit Evanjalin am Tor“, begann Trevanion. Sein Gesicht war von Asche bedeckt und blutverschmiert. „Was ist dort passiert?“
    „Isaboe“, verbesserte Finnikin leise. Er rieb sich die Augen und fragte sich, wann er alle Konturen wieder scharf sehen würde. „Sie hat gelogen.“
    Es herrschte Schweigen, bis sein Vater zu sprechen begann. „Die Königin hat nicht direkt gelogen, sondern nur etwas verschwiegen. Etwas, was uns immer zur Schande gereichen wird. Ich schäme mich, dass ich mich kaum an das Kind erinnere, das später die Novizin Evanjalin wurde. Ich erinnere mich an die älteren Prinzessinnen und an Balthasar, aber nicht an das kleine Mädchen.“
    „Sie hat einfach etwas ausgelassen. Die Traumwanderungen waren nicht ihre einzige Gabe. Oder der einzige Fluch.“ Finnikin lachte bitter. „Oh, solch eine Gabe zu besitzen. Jedes Mal die Qualen zu spüren, wenn ein Lumaterer leidet! Sie fühlt jeden Tod, jeden Schmerz, jeden Moment der Trauer. Und sie wandelt nicht nur durch die Träume unseres hilflosen Volkes.“ Er sah seinen Vater an. „Sie geht auch durch die Träume der Mörder“, flüsterte er mit gebrochener Stimme. „Durch die Träume jener Lumaterer, die sich der Garde des Thronräubers angeschlossen haben.“
    Trevanion fluchte.
    „Der König starb zuletzt. Sie haben dafür gesorgt, dass er alles mit ansehen musste. Und was sie den Prinzessinnen und der Königin antaten, will ich niemals aussprechen, solange ich lebe. Doch Isaboe weiß es, weil sie den Traum eines dieser Scheusale belauscht hat, das Zeuge dieser Gräueltaten war. Und wenn ich einen Wunsch in meinem Leben freihätte“, sagte er und knirschte mit den Zähnen, „würde ich ihr diese schrecklichen Erinnerungen nehmen. Gütige Göttin, wenn ich nur die Macht dazu hätte! Ich würde mein Leben dafür geben.“ Und dann weinte er voller Verzweiflung über seine Hilflosigkeit.
    Trevanion konnte Finnikin keinerlei Hoffnungen machen. Männer wie er eroberten Königreiche und dienten im Heer, aber sie waren nicht in der Lage, ihren Angehörigen in ihrem Kummer beizustehen. Während Finnikin sich nichts mehr wünschte, als alle bösen Erinnerungen in Isaboes Gedächtnis zu löschen, hätte Trevanion alles dafür gegeben, seinen Sohn trösten zu können.
    „Finn, sieh mal!“, sagte er nach einer Weile. „Der Fluss beginnt wieder zu fließen.“
    Als Trevanion und Finnikin zurück ins Palastdorf ritten, betraten die ersten Flüchtlinge Lumatere durch das Haupttor. Froi führte den Priesterkönig, der ganze Flüchtlingszug war von angespannter Stille begleitet.
    Lumaterer starrten einander an wie Fremde. Die Helfer, die sich um die Verletzten gekümmert hatten, liefen auf einen nahen Hügel und sahen der Prozession entgegen. Finnikin und Trevanion wendeten die Pferde und bahnten sich einen Weg durch die Menge der Dorfbewohner. Finnikin konnte hören, wie sie Trevanions Namen flüsterte n – und seinen. Mit den verfilzten Haaren und den blutgetränkten Gewändern mussten sie Furcht einflößend aussehen. Plötzlich hörte er neben sich einen spitzen Schrei, und einen Moment später drängte sich eine Frau an ihm vorbei. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte ihren Hals, um die Reihen der vorbeiziehenden Flüchtlinge abzusuchen.
    „Asbrey, mein Bruder“, sagte sie leise. Sie drehte sich zu einem älteren Mann um, der hinter ihr stand. „Fa! Da ist Asbrey, dein Sohn! Er hält einen Säugling im Arm.“ Sie wandte den Blick wieder der Gruppe hinter Froi und dem Priesterkönig zu und hielt sich die Hand vor den Mund, als wollte sie einen Aufschrei zurückhalten. „Und meine Mutter.“
    Finnikin drehte sich zu dem alten Mann um. Er machte große Augen vor lauter Fassungslosigkeit, doch seine Tochter

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