Winterlicht
erklang.
An diesem Nachmittag machte sich Finnikin mit Sir Topher auf den Weg zu Lady Beatriss. Zu Beginn der Woche hatte er sie kurz im Palastdorf gesehen, sich ihr jedoch nicht genähert, aus Angst, nicht die richtigen Worte zu finden. Doch als er nun in der Stube des Gutshauses vor ihr stand, wurde ihm klar, dass gar keine Worte nötig waren. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn sanft auf die Stirn, dann bot sie ihm und Sir Topher stumm einen Platz an und setzte Tee auf.
„Bitte bedient mich nicht, Lady Beatriss. Es beschämt mich, wenn Ihr das tut“, sagte Finnikin.
„Wer dich auch bedient, es sollte dich immer beschämen“, sagte sie ohne Tadel in der Stimme.
Sir Topher breitete die Aufzeichnungen vor ihnen auf dem Tisch aus. „Wir haben bereits die Namen aller Flüchtlinge erfasst. Ein Kreuz neben dem Namen bedeutet, dass diese Person außerhalb des Königreichs gestorben ist“, sagte Sir Topher. „Zwei Striche daneben bedeuten, dass sie am Leben ist.“
Sie sah ihn einen Moment lang an. „Flüchtlinge? Wir nannten euch ‚die Verlorenen‘.“ Sie betrachtete die Dokumente und fuhr langsam mit den Fingern über die Namen. Ein Laut des Entsetzens entfuhr ihr und sie hielt sich die Hand vor den Mund. „Lord Selric und seine Familie?“
Sir Topher nickte bedauernd. „Es gab eine Seuche in Charyn. Vor drei Jahren.“
„Sind alle tot?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme. „All die wunderbaren Kinder?“
Sir Topher räusperte sich und nickte wieder.
Sie ging weiter die Namensliste durch. „Die Familie von Sym dem Töpfer?“
„Sarnak“, brachte Finnikin hervor.
Sie wurde blass. „Sarnak“, flüsterte sie. „Die Königin sprach erst gestern mit uns darüber, als ich gemeinsam mit Lady Abian das Sagrami-Kloster besuchte. Ich konnte der Königin genau sagen, wann das Massaker stattgefunden hat. Als meine Vestie drei Jahre alt war, schrie sie tagelang, bis sie keine Stimme mehr hatte. Ich konnte nur bei ihr sitzen und über sie wachen. Tesadora gab ihr einen Schlaftrunk. Wir hatten keine Ahnung, was passiert war. Wir wussten nur, dass unserem Volk etwas Furchtbares zugestoßen sein musste.“
„Die Königin wandelte in dieser Nacht durch Euren Schlaf. Sie sagte, dies sei der Grund für ihre Reise in das Kloster von Sendecane gewesen“, bemerkte Sir Topher leise.
„Ich habe nie gemerkt, dass sie in meinen Träumen war. Ich war erschüttert, als die Königin davon sprach. Wir konnten Vestie lange Zeit nicht danach fragen, denn sie begann erst spät zu sprechen und auch dann waren es nur ein paar Worte. Doch ich habe immer gespürt, dass sich mein Kind verändert e – und zwar jeden Monat während der Tage des Traumwandelns.“
„War die Verwandlung gut oder schlecht?“, fragte Finnikin.
„Anders als für die Königin oder Tesadora waren diese Tage für Vestie friedlich. Tesadora schaffte es irgendwie, alles Düstere von ihr fernzuhalten. Aber ich habe zur Göttin Lagrami gebetet, sie möge die Königin beschützen, in jener Zeit, in der Vestie immer wieder so schrecklich schrie, in der Zeit des Massakers. Und tatsächlich führte unsere Göttin Isaboe nach Sendecane, wo sie für ein Weilchen in Frieden leben konnte.“
„Ihr wusstet die ganze Zeit, dass die Frau in Vesties Träumen die Königin ist?“, fragte Finnikin.
Sie nickte. „Sehr lange war Vesties einziges Wort ‚Isaboe‘. Doch du solltest besser Tesadora nach der Verbindung zwischen Vestie und der Königin fragen. Was den Bannfluch und das Wirken der Magie betrifft, so verstehe ich vieles bis heute nicht.“ Sie sah auf und spürte Finnikins Blick auf sich ruhen.
„Ihr habt also mit der Königin gesprochen?“, sagte er leise. „Erst gestern?“ Er selbst hatte Isaboe nicht mehr gesehen, seit er sie auf Tesadoras Wagen gelegt hatte. „Der Garde wurde noch nicht erlaubt, das Kloster zu betreten.“
„Tesadora lässt keine Männer in die Nähe der Mädchen.“
„Wir würden ihnen doch nie etwas antun“, sagte Sir Topher.
„Es gab bereits Übergriffe. Langeweile machte den Thronräuber und seine Männer zu Bestien. Zuerst haben sie sich das Lagrami-Kloster vorgenommen. Es lag in der Nähe des Palastes und die Novizinnen waren ihnen schutzlos ausgeliefert. In der Nacht, als die Männer des Thronräubers über sie herfielen, blieb keine von ihnen verschont, nicht einmal die Priesterin. Eines Nachts verschwanden sie, und obwohl ich da schon vermutete, dass Tesadora und die Novizinnen der
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