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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melina Marchetta
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Mutter, meine Geschwister und ich waren auch da. Aber mein Vater hielt sich gerade in Sarnak auf und meine Mutter weigerte sich, zusammen mit Saro unser Tal zu verlassen. Sie bestand darauf zu warten. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass unser Vater aus Sarnak zurückkommen und uns holen würde.“ Evanjalin sah ihn an. „Erinnerst du dich an diese Zeit?“
    „Nur zu gut“, sagte er ruhig. „Wir warteten fast eine ganze Woche. Nach Verhängung des Fluchs sandte Saro zwei seiner Männer aus, um von einer anderen Stelle aus einen Zugang zum Königreich zu suchen. Nur einer von ihnen kehrte nach ein paar Tagen zurück.“ Finnikin verstummte. Er musste an die Worte des Mannes denken. Er hatte beteuert, dass eine unsichtbare Kraft sie überall entlang der Grenze daran gehindert habe, Lumatere zu betreten. Doch an der Grenze zu Charyn habe sein Kamerad dennoch versucht die Sturmwand zu durchdringen, aber der Nebelschlund habe ihn wieder ausgespuckt, mit zerschmetterten Gliedern.
    „Und dann gab es kein Halten mehr“, fuhr Finnikin laut fort. „In Scharen zogen die Menschen weg, denn es ging ums nackte Überleben, man musste für den Familienunterhalt sorgen. Die Vertriebenen überlegten, ob sie nach Charyn gehen sollten oder lieber nach Belegonia oder Sarnak. Ich blieb bei den Soldaten meines Vaters, bis Sir Topher mich unter seine Fittiche nahm. Wie waren die Letzten, die abreisten.“
    Auf der Anhöhe wehte ein kräftiger Wind. Er blies Finnikin die Haare ins Gesicht. Evanjalin streckte die Hand aus und strich sie zurück. Als er ihre Finger auf seiner Haut spürte, zuckte er zusammen. Seit seiner Kindheit hatte ihn niemand mehr so sanft und zärtlich berührt. Er war durchaus vertraut mit den Frauen und so manche hatte seinen Körper mit ihren Händen erforscht, aber Evanjalins behutsame Berührung gab ihm ein Gefühl von Zärtlichkeit.
    „Ich weiß noch, wie die verlassenen Kinder am Straßenrand weinten“, sagte sie. „Manche von ihnen waren erst zwei oder drei Jahre alt. Aber die Leute kümmerten sich zuallererst um sich selbst und ihre Familien und überließen fremde Kinder dem sicheren Tod. Das ist der einzige Grund dafür, dass ich Mitleid habe mit dem Dieb von Sarnak.“
    Finnikin nickte. „Einerseits glaube ich nicht, dass Menschen wie er eine Zukunft haben. Menschen, die nur ihren niedrigsten Instinkten folgen. Andererseits möchte ich sie am liebsten alle einsammeln und zu uns holen, damit sie in einer neuen Heimat doch noch eine Chance bekommen. Denn da gehören sie hin.“
    Er spürte ihren Blick, drehte sich jedoch nicht zu ihr um. Er wollte nicht, dass ihre Augen in sein Innerstes schauten.
    „Das heißt, du willst den Rest deines Lebens durch die Lande ziehen? Wer bist du, dass dich ein so schrecklicher Fluch getroffen hat?“, fragte sie.
    Einer, der das Böse in sich trägt, hätte er am liebsten geantwortet. Ausgerechnet Seranonna hatte es eines Tages, als er mit Isaboe im Wald spielte, erkannt und laut ausgesprochen.
    Ihr Blut wird fließen, damit du König wirst.
    „Sag mir, was du willst, Finnikin“, fragte Evanjalin beharrlich.
    „Ich möchte in Ruhe gelassen werden, damit ich das tun kann, was ich zuvor getan habe“, sagte er schroff. Ich möchte nichts anderes, als nach meinem Vater suchen, hätte er am liebsten geschrien.
    „Und was genau wäre das? Durch die Lande ziehen? Namen von Toten sammeln? Wo sollen sich unsere Wege trennen, Finnikin?“
    Zurück in den dumpfen Frieden, in dem Sir Topher und ich lebten, ehe du in unser Leben getreten bist.
    Er starrte sie an und sie hielt seinem Blick stand. „Die Idee mit dem Schweigegelübde war gar nicht so schlecht“, sagte er schließlich.
    Ihre Mundwinkel zuckten. „Tatsächlich? Ich glaube, du lügst.“
    „Nein, es stimmt. Ich vermisse dein Schweigen.“
    „Und ich bin sicher, dass du mir nur allzu gern erzählen würdest, was ihr damals auf dem Felsen der drei Wunder gerufen habt. Du, der Hurensohn und der Thronerbe.“
    Er musste lachen. „Wir glaubten fest an die Existenz des Silberwolfs. Der Sage nach konnte nur ein echter Krieger ihn töten. Wir bauten Fallen im Wald und taten so, als hätten wir ihn gefangen. Balthasar war der Krieger und ich sein Leibgardist. Lucian war der Wolf, Isaboe der Köder. Wir marschierten zu unserem Felsen, opferten den Göttern und verkündeten lauthals unsere Schwüre. Wir gelobten einander Treue, ja, wir versprachen einander sogar, Lumatere aus jeder Gefahr zu erretten.“ Er

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