Winterlicht
Hoffnungen.
„Ich sehne mich danach, unsere Muttersprache zu hören“, sagte er unwillkürlich. „Sie zu hören und sie zu sprechen. Sir Topher legt großen Wert darauf, dass wir überall die Landessprache sprechen. Aber ich träume in der Sprache von Lumatere. Liebst du sie nicht auch? Ihre Laute sind kehlig, kräftig und dunkel. Sie sprechen von harter, ehrlicher Arbeit und haben nicht die Leichtigkeit belegonischer und osterianischer Dialekte.“
Ein zärtliches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Ich vermisse die Melodie der überfüllten Marktplätze in meinem Heimatdorf. Ich vermisse den Palast, wo alle wild durcheinanderreden. Ich kann dir nicht sagen, wie oft ich den König brüllen hörte: ,Ruhe! Schluss mit dem Geplapper!‘ So etwas sagte er natürlich nur im engsten Familienkreis.“
Sie lachte und der Klang ihrer Stimme tröstete ihn.
„So war es, ich schwöre. Die Königin war die Lauteste von allen. ,Welcher Fluch hat mir die ungezogensten Kinder im ganzen Land beschert?‘, pflegte sie zu sagen. Vestie, du entschuldigst dich sofort bei der Amme, sonst säuberst du den Abtritt für den Rest der Woche! Balthasar, noch sitzt du nicht auf dem Thron, und selbst wenn es so weit ist, wirst du dich gefälligst bei Tisch benehmen wie ein menschliches Wesen.“
Evanjalins Lachen war ansteckend, deshalb fuhr Finnikin mit seinen Geschichten fort. Im Felsendorf hatte er sich wohlgefühlt, aber noch besser hatte es ihm bei Hofe gefallen. Im Palast hatte er seine Zeit mit Balthasar und den fröhlichen Prinzessinnen verbracht, aber vor allem mit Trevanion. Immer wenn er Zeuge von Macht und Einfluss seines Vaters geworden war, war er beinahe geplatzt vor Stolz. Manchmal hatte Trevanion ihn aus dem Bett geholt und mit auf die Nachtwache genommen. Dann hatten sie zusammen auf dem Turm gesessen und hinunter auf die Welt geblickt. Häufig hatte sich Lady Beatriss zu ihnen gesellt, und wenn sie in der kalten Nachtluft gefröstelt hatten, hatte Trevanion sie beide mit seinen Armen umfangen und warm gehalten.
„Dann verlange ich, dass du immer unsere Sprache sprichst, wenn wir allein sind“, sagte Evanjalin und riss ihn aus seinen Erinnerungen.
„Du verlangst es?“, spottete er. „Und aus welchem Grund?“
„Wenn wir unsere Sprache verlieren, verlieren wir uns selbst. Wer sind wir denn ohne Worte?“
„Der Abschaum der Erde“, sagte er bitter. „In manchen Königreichen haben sie jede Spur von Lumatere ausgemerzt. Die Vertriebenen leben in einem fremden Land und haben die Sprache dieses Landes zu sprechen oder gar keine. Das ist die Strafe für unser würdeloses Leben.“
„Also haben die Männer aufgehört zu reden“, sagte sie sanft.
Männer, die in Lumatere selbstbewusst ihre Stimme erhoben hatten. Männer, die gut für ihre Familien gesorgt hatten und in ihren Dörfern geachtet worden waren. Jetzt saßen sie stumm da und verließen sich darauf, dass ihre Kinder für sie übersetzten, so als wären sie hilflose Säuglinge. Finnikin fragte sich, wie ein stolzer Mann das ertragen konnte und was es aus ihm machte. Wie sollten die Lumaterer die Geschichten ihres Volkes ohne Sprache weitergeben?
„Und dabei reden die Lumaterer doch so gerne“, sagte Finnikin. „Sie rufen von den Hügeln, brüllen auf Marktplätzen durcheinander, singen auf den Flusskähnen. Ich hatte einen Lieblingsplatz in der Nähe unseres Dorfes, den Fels der drei Wunder. Dort hinauf kletterte ich oft mit Balthasar und Lucian aus den Bergen. Als eine aus dem Volk der Monts wirst du ihn ja bestimmt kennen.“
Sie nickte. „Ja, er ist Saros Sohn.“
„Wir nahmen uns gerne gegenseitig hoch. Er nannte mich ,Höhlenmensch ‘ – und zwar mehr als einmal.“
„Und wie hast du ihn genannt?“, fragte sie lachend.
„Hurensohn. Mehrmals. Balthasar spielte dabei immer den Schiedsrichter. Er musste entscheiden, wer die grässlichsten Schimpfwörter vorgebracht hatte. Natürlich war ich immer Sieger. Die Leute von Mont sind recht einfach zu beleidigen.“
„Du sprichst hier von meinem Volk“, sagte sie mit gespielter Entrüstung.
„Wie kommt es, dass du von deiner Familie getrennt wurdest?“, fragte Finnikin. „Du bist die Erste aus den Bergen, der wir auf unseren Reisen begegnet sind.“
Evanjalin schwieg einen Augenblick, und er fragte sich, ob sie wohl wusste, wo sich die Leute von Mont versteckt hielten. „Saro hat die Bergbewohner wenige Tage nach der Ermordung seiner Schwester, der Königin, weggeführt. Meine
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