Winterlicht
erging es den Kindersklaven, die tagsüber in den Stollen schufteten und nachts unter der Erde eingesperrt waren. Aus diesem Grund war Finnikin froh darüber, dass er, Sir Topher und der Dieb hellhäutig waren und die Novizin ihr Haar kahl geschoren hatt e – in dieser Hinsicht entsprachen sie nicht dem Feindbild der Sorelaner.
„Halte den Kopf gesenkt“, ermahnte er jedoch Evanjalin, als sie die schwer bewachten Tore der Grenzstadt erreichten. „Sie misstrauen allen Menschen mit dunklen Augen und wir dürfen keinerlei Aufmerksamkeit auf uns ziehen.“
Finnikin passierte das Tor unbehelligt, nicht einmal der Pfeilköcher auf seinem Rücken und der Bogen an seiner Seite erregten das Interesse der Wachen. Sie hatten nur Augen für die Novizin. Sie packten sie so derb am Kragen, dass sie zu würgen anfing. Finnikin wollte ihr zu Hilfe eilen, aber sie streckte die Hand aus und hielt ihn zurück. Er musste tatenlos mit ansehen, wie die Soldaten sie auf die Knie zwangen und hinter ihren Ohren nach Anzeichen der Ruhr suchten. Flüchtlinge aus Lumatere standen in dem Verdacht, diese Krankheit einzuschleppen.
Der Soldat zeigte währenddessen keinerlei Gefühlsregung. Anders als in Sarnak gab es hier keine Armut, die Hass auf andere erzeugte. Die Bewohner von Sorel hatten vielmehr über Generationen ein Gefühl der Überlegenheit kultiviert und lehnten von vorneherein alles Fremde ab.
Als der Soldat Evanjalin zwang, den Mund zu öffnen und darin herumfingerte, erwachte erneut Finnikins Zorn und er griff nach Trevanions Schwert.
Sir Topher hielt ihn zurück. „Du machst alles nur noch schlimmer“, raunte er. „Du setzt ihr Leben aufs Spiel.“
Der Dieb von Sarnak sah zu und kicherte vergnügt.
Im Dorf angekommen, musste sich Evanjalin direkt vor Finnikins Füßen übergeben. Er nahm an, dass ihr jedes Mal schlecht wurde, wenn sie an die dreckigen Finger des Soldaten dachte. Ganz selbstverständlich stützte er Evanjalin und wischte ihr mit dem Saum seines Hemdes übers Gesicht. Ihre Blicke trafen sich. Die Trostlosigkeit in ihren Augen schnürte ihm die Kehle zu. Plötzlich wünschte er sich, ihr diese Last abnehmen zu können. Vorhin, in der Situation mit der Wache, hatte zum ersten Mal in seinem Leben sein Gefühl den Verstand besiegt. Und er bereute es ganz und gar nicht. Er wusste mit einer Bestimmtheit, die ihn selbst überraschte, dass sein Schwert kein zweites Mal ungenutzt bleiben würde, sollte irgendwer Evanjalin auch nur anrühren wollen.
Sie wich ein Stück zurück und deutete auf eine Herberge am Ende der Hauptstraße. „Ich möchte mein Gesicht waschen“, murmelte sie und ging davon. Finnikin wollte ihr folgen, aber Sir Tophers Worte hielten ihn zurück.
„Finnikin. Lass sie für einen Moment allein.“
Später schlugen sie ihr Lager am Fuß einer Böschung auf. Während Sir Topher ein Schläfchen hielt und der Dieb von Sarnak über seine Fesseln fluchte, rüstete sich Evanjalin, die felsige Anhöhe hinaufzusteigen.
„Bleib hier“, befahl Finnikin.
Aber wenn ihm eines klar war, dann das: Die Novizin tat immer genau das, was sie wollte. Und so kam es, dass er ihr gegen seinen Willen hinterherkletterte. Auch wenn er Evanjalin im Stillen verfluchte, so musste er doch ihre Kühnheit und ihre Kletterkünste bewundern.
Als Finnikin oben ankam, stand sie auf einem schmalen Felsvorsprung, der das Lager überragte. Der weite Blick nach Westen nahm ihm den Atem, denn dort erstreckte sich Belegonia im sanften Abendlicht.
„Wie schön“, sagte sie in ihrer Muttersprache.
Er stand ganz still und fragte sich insgeheim, weshalb er sich jedes Mal freute, sie in ihrer Sprache reden zu hören.
„Sag etwas“, forderte sie ihn auf, während die Sonne langsam unterging und die Luft kühler wurde. „Sag mir, was du gerade denkst.“
Mit Sir Topher unterhielt er sich über Strategien. Sie überlegten zusammen, wie man das Land unter den Vertriebenen aufteilen könnte, welche Pflanzen eine ertragreiche Ernte versprachen, und diskutierten über die Politik der Länder, die sie bereisten. Sie übten sich im Schwertkampf, plagten sich mit nörgelnden Herzögen herum oder stritten sich mit Botschaftern, die am höfischen Protokoll klebten. Aber in den zehn langen Jahren des Exils hatte nie jemand Finnikin danach gefragt, was er dachte. Gleichwohl wusste er, dass Evanjalins Frage nicht so schlicht war, wie sie schien. Sie wollte wissen, was er verbarg: seine schmerzlichen Erinnerungen und törichten
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