Winterlicht
Pferde auf Euch.“
Er sagte kein Wort.
„Von da aus folgt dem Weg nach Osteria bis zur nächsten Gabelung. Wendet Euch dann aber weder nach Lannon noch nach Hopetown. Nehmt stattdessen den schmalen Pfad durch die Wälder, der Euch zu dem Stall eines verlassenen Anwesens führen wird. Dort werden wir auf Euch warten, damit wir alle gemeinsam nach Norden reisen können.“
Er wusste, was sie mit „Norden“ meinte. Jetzt schickten sie also schon die ganz Jungen zu ihm. War es eine Gruppe von Vertriebenen? Warum sagten sie nach all den Jahren ihren Kindern nicht einfach die Wahrheit: dass sie im Norden nichts anderes erwartete als der Tod?
Er ging zu dem Mädchen, das an den Gitterstäben lehnte, und hob den Arm. Sie zuckte zurück. Er starrte sie an, dann rüttelte er an den Stäben über ihrem Kopf, um die Wache zu rufen.
„Tut mir den Gefallen“, sagte sie und duckte sich unter seinem Arm weg. „Von hier aus kann man nämlich den neuen Häftling sehen.“ Sie kauerte sich auf den Boden und spähte in den dunklen Gang, aus dem ein übler Gestank kam.
Der Gefangene rührte sich nicht vom Fleck.
„Mir ist ein Gerücht zu Ohren gekommen“, sagte sie ruhig. „Aber nein, ich lüge. Kein Gerücht.“ Sie winkte, und als er keine Anstalten machte, näher zu ihr heranzutreten, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm zu: „Es heißt, er sei der Sohn von Trevanion, dem Hauptmann der Königlichen Garde von Lumatere.“
Ehe auch nur einer von ihnen Luft holen konnte, hatte er sie schon an der Kehle gepackt und gegen die Stäbe gestoßen. Er hielt sie umklammert mit derselben Hand, die schon oft genug ein Leben ausgelöscht hatte. Er hörte ein dumpfes, tierisches Knurren, das er wenige Augenblicke später als seine eigene Stimme erkannte. Er drückte fester zu und sah, wie sich das Gesicht des Mädchens langsam verfärbte. Mit beiden Händen versuchte es sich zu befreien. Schließlich versetzte ihm die Novizin einen kräftigen Stoß mit dem Knie, und als sich sein Griff für eine Sekunde lockerte, gab sie ihm noch einen Tritt, fiel auf die Knie und rang nach Luft.
„Genau das habe ich mir erhofft, Hauptmann“, keuchte sie. „Wenn Ihr es nicht schafft, ihn zu beschützen und ihm die Freiheit wiederzugeben, dann komme ich zurück und schneide Euch eigenhändig die Zunge heraus. Dann habt Ihr wenigstens einen Grund zu schweigen.“ Sie rappelte sich auf. „Wache! Wache!“
„Was hast du getan?“, fragte er heiser.
In ihrem Gesicht stand die pure Qual.
„Ich habe getan, was getan werden musste.“
Als er am nächsten Morgen erwachte, erinnerte er sich daran, dass er geträumt hatte: von Pfefferminze und von den schmalen Ärmchen eines Kindes, das ihn wie ein kleiner Affe umklammerte und nicht loslassen wollte. Sie mussten den Jungen immer wieder von ihm wegzerren, und jedes Mal weinte der Kleine. Obwohl seine Herkunft es kaum vermuten ließ, war er äußerst empfindsam.
„Ich möchte gegen den Jungen kämpfen.“
Die zwei Wachen starrten ihn verblüfft an. Bisher hatte sich Trevanion, der Mann mit den dunklen Augen, nie dazu herabgelassen, gegen einen Neuling anzutreten.
„Du?“
Die Wachen sahen einander hämisch an. „Wie es heißt, hattest du vergangene Nacht Besuch.“
Der Schmächtigere von beiden beugte sich mit gieriger Miene vor. „Hat die Kleine dir Appetit auf junges Fleisch gemacht?“
Der Gefangene wich dem Blick des Wärters aus, damit er seine Wut für Scham hielt.
„Wirst du ihn mit den anderen teilen, Trevanion?“, fragte der zweite Wachmann. „Der Junge ist gut genug für mehrere.“ Die beiden Männer lachten, und zum ersten Mal seit jenem Tag, als man ihn aus Lumatere fortgebracht hatte, spürte Trevanion unendlichen Zorn.
Ich habe getan, was getan werden musste, hatte das Mädchen gesagt.
Eines wusste er genau: Dieses Stück Dreck, das da vor ihm stand, würde als Erstes sterben. Danach war das Mädchen an der Reihe.
Den ganzen Tag über ließ er den Jungen nicht aus den Augen. Er schien nur aus Armen und Beinen zu bestehen, ganz offensichtlich kam er nach seiner Mutter. Er machte den Eindruck, als wüsste er nichts Rechtes anzufangen mit seinem Körper, der viel zu schnell in die Höhe geschossen war. Aber so ungelenk er auf den ersten Blick auch wirkte, er verstand es anzupacken. Kein einziges Mal brach er unter der Kohlenlast zusammen. Aber Trevanion sah die Verzweiflung in seinen Augen und sie traf ihn bis ins Mark.
Später reihten sich die
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