Winterlicht
schüttelte den Kopf und dachte an den letzten Schwur, den sie alle drei getan und mit ihrem Blut besiegelt hatten.
„So einen Felsen hätte ich auch gern“, sagte sie. „Er würde mir die Zunge lockern und mir den Mut geben, all das auszusprechen, was ich noch nie zu sagen wagte.“
„Und was wäre das, Evanjalin? Würdest du den Thronräuber verdammen? Würdest du all jene verfluchen, die ihm die Steigbügel hielten?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich würde meinen Namen laut aussprechen. Evanjalin aus den Bergen!“
Finnikin war überrascht von dem lauten Widerhall ihrer Stimme. Er trat an die Felskante, um dem Echo zu lauschen, bis es sich ganz verlor. Am liebsten hätte er es mit beiden Händen festgehalten.
„Finnikin von den Felsen!“, brüllte er. Dann drehte er sich zu ihr und sah, wie ihre Augen funkelten. „Sohn von Trevanion aus dem Flussland und Bartolina von den Felsen!“ Mit theatralischer Geste schlug er sich an die Brust.
Sie lachte und tat einen Schritt auf ihn zu. „Todfeind des Schwindlerkönigs!“, schrie sie.
Er dachte kurz nach, dann nickte er zustimmend. „Getreuer Diener von Sir Topher, dem Obersten Ratgeber des Königs am Hof von Lumatere!“
„Ergebener Untertan unseres geliebten Balthasar!“
„Sohn eines Mannes, der einst Lady Beatriss aus dem Tiefland liebte!“
„Tochter jenes Volkes, das unschuldig niedergemetzelt wurde!“
„Bruder eines Mädchens, das noch vor dem ersten Atemzug starb!“
„Schwester, die von den Ihren über alles geliebt wurde!“
Finnikin hielt die Luft an, als er sah, wie nah sie dem Rand des Felsvorsprungs war. Er schlang den Arm um ihre Taille und presste sie an sich. „Du Närrin“, sagte er fast zärtlich, seine Lippen berührten beinahe ihr Ohr. „Du hättest abstürzen können.“
Sie schauderte, dann machte sie sich von ihm frei. „Lass uns gehen“, murmelte sie.
„Vertrau mir“, sagte er und streckte die Hand aus.
Zitternd ergriff Evanjalin sie, dann machten sie sich schweigend an den Abstieg. Schon jetzt vermisste er den Klang ihrer Stimme.
Als er ihr das letzte Stück über die Steine half, hielt er plötzlich inne und strich über die Abschürfung an ihrem Mund.
„Finnikin!“ Am Eingang der Höhle tauchte ein besorgter Sir Topher auf.
„Wir sind hier.“
„Geht nicht zu weit weg. Du weißt, was das für ein seltsamer Ort ist.“
Am Abend verzehrten Finnikin und Evanjalin schweigend unter den wachsamen Augen Sir Tophers Brot und Käse. Sogar der Dieb wirkte bedrückt. Später, als Finnikin weiter am Buch von Lumatere schrieb, wagte er einen Blick zu Evanjalin, die mit geballten Fäusten abseitsstand. Er klemmte das Buch unter den Arm und trat zu ihr. Dabei kam er sich merkwürdig vor und sein Puls schlug viel zu schnell.
„Setz dich zu uns“, sagte er ruhig. „Sir Topher erzählt Geschichten von seinen Reisen mit dem König.“
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Was ist?“, fragte er unwirsch.
„Wenn du den Dialekt von Lumatere sprichst, dann singst du wie die Menschen vom Fluss.“
„Entweder das oder ich grummle wie die Menschen von den Felsen.“
Sie lachte, doch dann wurde aus ihrem Lachen ein Schluchzen, und sie schlug die Hände vor den Mund. Finnikin kam noch etwas näher, legte den Finger unter ihr Kinn und hob es an.
„Füge dich ihrem Willen und bleibe am Leben, Finnikin“, flüsterte sie eindringlich.
Er beugte sich zu ihr. „Was soll das heißen?“, murmelte er verwirrt.
„Finnikin!“
Sir Tophers besorgte Stimme schreckte ihn auf, und im selben Moment hörte er das Trappeln von Pferdehufen. Fünf sorelische Soldaten kamen mit Fackeln auf sie zugeritten.
„Wo ist der Verräter, der sich für den Prinzen von Lumatere ausgibt?“, fragte der Vorderste und stieg ab.
Finnikin traute seinen Ohren nicht. Sir Topher blickte ihn fragend an, und in dem flackernden Licht des Feuers sah Finnikin Furcht in den Augen des alten Mannes. Der Dieb von Sarnak war bereits irgendwo in Deckung gegangen. Diebe wussten meist nur zu gut, den Minen von Sorel zu entgehen.
„Unter uns ist kein Hochstapler“, antwortete Sir Topher freundlich. „Wir sind Kaufleute aus Belegonia und versprechen uns gute Geschäfte in einem so wohlhabenden Land wie dem euren.“
„Wie kommt ihr dazu, uns zu verdächtigen?“, fragte Finnikin. Die Soldaten blickten an ihm vorbei zu der Stelle, wo Evanjalin stand. „Ist er das?“, fragte einer von ihnen.
„Lass sie in Ruhe. Sie geht dich nichts an“,
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