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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melina Marchetta
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wieder zurückerobert worden, dass keiner so genau wusste, wer dort gerade das Sagen hatte. An einem solchen Ort würden nicht einmal zwei entflohene Sträflinge, von denen einer noch dazu aussah, als wäre er geradewegs der Hölle entronnen, besonders auffallen.
    Um die Mittagszeit betraten sie den Hinterhof einer Stadtherberge. Von den Balkonen winkten ihnen Frauen mit eindeutigen Gesten zu. Sie kokettierten und gurrten, und Finnikin hörte, wie Evanjalin neben ihm verächtlich schnaubte, bevor sie das Pferd in den Stall führte.
    Im Gastraum erwarteten die Frauen sie schon. Finnikin beobachtete, wie sie sich um Trevanion scharten. Schon damals in Lumatere hatten die Damen den Hauptmann umschmeichelt. Selbst die Leidensjahre in den Bergwerken hatten seinem ebenmäßigen Gesicht nichts anhaben können. Mit gestutztem Bart und zurückgebundenen Haaren übte er noch immer große Anziehungskraft auf das andere Geschlecht aus, dem tat auch seine blasse Gesichtsfarbe keinen Abbruch.
    Sir Topher kehrte mit einem Schlüssel zurück. „Komm, Evanjalin. Ich habe uns ein Zimmer gemietet. Du möchtest dich doch gewiss ein wenig ausruhen“, sagte er, wohl wissend, welche Angebote die beiden anderen gerade von den versammelten Damen bekamen.
    Finnikin warf der Novizin einen verstohlenen Blick zu, aber dann umschwirrten auch ihn die Frauen mit aufreizendem Lachen, und er ließ es zu, dass eine von ihnen seine Hand nahm und ihn mit sich fortzog.
    Später trat er auf den winzigen Balkon gleich neben dem Bett und sah den Händlern zu, wie sie ihre Verkaufsstände abräumten. Das Tavernenmädchen zog ihn neckend zu sich. Er hatte das Zusammensein mit ihr genossen. Sie hatte nichts von ihm verlangt, außer dass er ihr Vergnügen bereitete. Keine koketten Wortgefechte, keine Aufforderung an ihn, ein Königreich zu retten und einen Teil seiner selbst zu opfern. Trotzdem widerstand er der Versuchung zu bleiben. Er zog sich an und nahm sein Bündel.
    Draußen im Hof setzte er sich an einen Tisch und holte das Buch von Lumatere hervor. Er dachte an Evanjalin, die oben in ihrem Bett lag, und an ihr Gespräch kurz vor seiner Einkerkerung. Er hatte ihr vertraut, aber sie hatte ihn betrogen.
    Er blätterte Seite für Seite um und ließ den Finger über die lange Liste von Namen gleiten, die er in den vergangenen Jahren zusammengetragen hatte. Doch dann fand er plötzlich einen Eintrag in einer fremden Handschrift. Er rang nach Luft. Schmale Buchstaben füllten die Seiten, eine endlose Reihe von Namen, manche mit gleichmäßigen Federstrichen, andere mit zittriger Hand notiert.
    Er stand auf, um Evanjalin zu suchen, doch in diesem Moment fiel ihm auf, dass das Pferd nicht mehr an seinem Futterplatz war.
    „Das Pferd?“, rief er einen Stallburschen herbei. „Wer hat es geholt?“
    „Die Novizin hat es gebraucht.“
    „Wer?“
    „Ein Mädchen. Blaue Wollmütze. Angezogen wie ein Junge.“
    Da schien er endlich zu begreifen.
    „Wohin ist sie geritten?“, fragte Finnikin beunruhigt. Aber der Junge beachtete ihn nicht mehr. Finnikin trat ein paar Schritte zurück und überlegte, ob er Trevanion und Sir Topher rufen sollte, doch dann drehte er sich noch einmal um und fragte: „Wenn ich auf der Straße nach Süden weitergehe, wohin komme ich dann?“
    „Es gibt im Umkreis von einem Tagesmarsch kein einziges Dorf.“
    „Keine Siedlung?“
    „Nichts“, wiederholte der Junge.
    „Und wie weit ist es bis zum nächsten Dorf im Osten?“
    „Ich hab doch gesagt, da ist nichts“, erwiderte der Stallbursche. Doch als Finnikin sich zum Gehen wandte, fügte er hinzu: „Es gibt nur das Lager.“
    Finnikins Herz machte einen Satz. „Ein Lager?“
    „Da hausen diese verlausten Flüchtlinge. Man sollte sie einkesseln un d …“
    Noch bevor der Junge seinen Satz beenden konnte, drehte sich Finnikin auf der Stelle um und schlug die Straße in Richtung Osten ein.
    Er roch das Lager, lange bevor er es sah. Nichts hätte ihn auf den Anblick vorbereiten können, der sich ihm nun bot. Es erstreckte sich über eine größere Fläche als die ganze Stadt. Auf seinen weiten Reisen mit Sir Topher waren sie niemals auf ein so elendes Lager gestoßen. Die Menschen am Straßenrand musterten ihn mit leeren Blicken. Das ist kein Leben, dachte Finnikin, nur ein Dahinvegetieren von einem Tag zum nächsten. Von allen Seiten hörte er das herzzerreißende Plärren kleiner Kinder, die Hunger hatten.
    Aber von einem Pferd war weit und breit nichts zu sehen. Einerseits

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