Winterlicht
nahm Sir Tophers Hand und drückte sie fest. „Ich stehe in deiner Schuld bis ans Ende meiner Tage“, sagte er leise, ehe sich die beiden Männer kurz umarmten.
Finnikin zuckte zusammen, als Sir Topher eine Hand auf seine Schulter legte. „Hast du Schmerzen?“
„Es ist alles in Ordnung.“ Finnikin blickte Evanjalin nach, die nahe der Hütte in den Wald trat und sogleich verschwunden war.
„Du hast großes Glück gehabt, dass sie dich nur ins Gefängnis befördert hat. Den Dieb hat sie an einen Sklavenhändler aus Sorel verkauft.“
„Gütiger Himmel“, stöhnte Finnikin, den ihr Handeln immer wieder aufs Neue überraschte. Aber er hatte auch die Schwellungen in ihrem Gesicht gesehen. Er blickte den alten Mann fragend an. „Was hat er ihr angetan?“
„Genug, um sein Schicksal zu verdienen.“
In der Nacht lag Finnikin auf dem Dachboden und überließ es Evanjalin, die neben ihm kauerte, seinen verletzten Arm zu versorgen. Sie rührte eine Heilpaste an, die nach Rosmarin und Eukalyptus roch. Diese strich sie auf sein zerschundenes Gesicht.
„Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich ihrem Willen beugen?“, sagte sie leise.
„Was macht dich glauben, ich könnte mich irgendjemandem unterwerfen?“, erwiderte er schroff. Die Salbe auf seinem Gesicht brannte höllisch. Er packte Evanjalins Handgelenk gerade fest genug, dass es wehtat.
„Warum bist du so zornig?“, fragte sie und befreite ihre Hand.
„Du hast mich betrogen! Soll ich dir etwa dankbar sein?“
„Du hast deinen Vater wiedergefunden. Und Lumatere hat den Hauptmann der Königlichen Garde zurück.“
„Lumatere existiert nicht mehr.“
„Das glaubst du nur, Finnikin“, sagte sie. „Ich habe es in deinem Buch von Lumatere gelesen.“
„Dazu hattest du kein Recht“, sagte er wütend.
„Du hast das Buch bei deiner Verhaftung fallen lassen.“
„Du meinst wohl: Ich habe das Buch fallen lassen, als du mich verraten hast.“
Sie sah ihn nachdenklich an. „Du listest die Toten auf. Du erzählst nur von Katastrophen und Massakern. Was ist mit den Lebenden, Finnikin? Wer berichtet von ihnen?“
„Ach, und dafür bist du die Richtige?“, sagte er bitter. „Nach allem, was du angerichtet hast? Geh zu Bett, Evanjalin. Die Lumaterer schlafen ruhiger ohne dich.“
Er hörte sie seufzen. Dann sagte sie leise: „Nur ein Glückspilz, der zwei Väter an seiner Seite hat, kann so etwas sagen.“
Sie hob seinen Arm und Finnikin zuckte zusammen. „Ich muss deine Schulter einrenken“, sagte sie. „Keine Angst, ich weiß, wie man das macht. Soll ich dir vorher ein Zeichen geben oder willst du mir sagen, wenn du so weit bist?“
„Was für ein Zeichen?“, fragte er misstrauisch. „Kann ich dir überhaupt trauen?“
Sie wirkte verletzt. „Natürlich kannst du das. Lass uns zählen.“
„Du meinst, eins, zwe i …“
Sein lauter Aufschrei weckte die beiden Männer, sofort kamen sie herbeigeeilt.
„Was tust du da?“, herrschte Trevanion das Mädchen an und zerrte es von Finnikin weg.
Finnikin stotterte etwas Unverständliches. Er hatte die Augen verdreht und kämpfte mit den Tränen, so weh tat es.
„Ich verstehe mich darauf, Verletzte zu versorgen“, sagte eine dünne Stimme.
„Ach ja? Du meinst wohl, du verstehst dich darauf, andere zu quälen“, knurrte Trevanion.
„Lass sie in Ruhe, mein Freund“, sagte Sir Topher. „Sie hat selbst genug gelitten. Sie war bei den Flüchtlingen in Sarnak.“
„Und du glaubst ihr?“, fragte Trevanion kalt.
Evanjalin konnte seinem Blick nicht standhalten und senkte den Kopf.
„Dann sag uns, wer sie waren. Aus welchem Teil des Landes kamen sie?“
„Nur zu, Evanjalin“, sagte Sir Topher sanft.
Aber sie sagte kein Wort, und trotz seiner Schmerzen ballte Finnikin die Fäuste.
„Du hast die Hohepriesterin also angelogen, was Sarnak angeht?“, fragte er sie.
„Nein, das habe ich nicht.“ Ohne aufzublicken, reichte sie Sir Topher die Heilkräuter. „Auf den Arm, unterhalb des Gelenks“, sagte sie und ging hinaus.
Trevanions Miene war unerbittlich. „Bei der ersten Gelegenheit schaffen wir sie uns vom Hals.“
Kapitel 9
S ie mussten Sorel auf dem schnellsten Weg verlassen, das war jetzt das Allerwichtigste. Obwohl Trevanion sonst an keinem der Vorschläge Evanjalins ein gutes Haar ließ, musste er zugeben, dass Speranza, die Stadt der Gesetzlosen, jetzt die sicherste Zuflucht für sie alle bot. Die Stadt an der Küste war schon so oft erobert, aufgegeben und
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