Winterlicht
war Finnikin erleichtert, dass Evanjalin nicht hier zu sein schien, andererseits beschäftigte ihn die bange Frage, wohin sie geritten war. Deshalb sagte er zu jedem, der in seine Richtung blickte: „Ich bin auf der Suche nach einem Mädchen. Kahl geschoren, dunkle Augen.“
Als er keine Antwort bekam, fing er an, die Zeltreihen abzusuchen. Kinder mit aufgeblähten Bäuchen starrten ihn ebenso ausdruckslos an wie ihre Eltern. Ihre kleinen Gesichter waren voller Geschwüre, Fliegen saßen darauf.
Jemand packte ihn und hielt ihn fest. Es war ein Mann, nur wenig älter als Finnikin. Seine Haut spannte über den hervortretenden Wangenknochen. „In diese Richtung geht es zum Fieberlager“, sagte er. „Halte dich besser fern, sonst steckst du dich noch an.“
Finnikin blickte an ihm vorbei. Der Weg zum Lager war mit Exkrementen verdreckt und es stank so entsetzlich nach Körperauswürfen, nach Tod und Siechtum, dass er kaum zu atmen wagte. Er stolperte zur Seite und erbrach die Hammelsuppe und das Bier, das er in der Taverne zu sich genommen hatte. Als er so vornübergebeugt dastand, fiel sein Blick auf den Leichnam einer Frau direkt vor ihm. Ihre Augen waren weit aufgerissen und von Fliegen bedeckt.
Er spürte eine Hand auf der Schulter. Es war der Mann von vorhin, in seinem Blick lag Mitgefühl. Verwundert stellte Finnikin fest, dass es Mitleid selbst unter den schlimmsten Bedingungen gab. Beschämt stand er auf und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.
„Suchst du den Priesterkönig?“, fragte der Mann.
„Den Priesterkönig?“, wiederholte Finnikin verwundert. „Unser verehrungswürdiger Barakah ist hier?“
Der Mann nickte. „Drüben im Fieberlager.“
Finnikin ging weiter und hielt sich die Hand schützend vor den Mund.
„Komm wieder zurück!“, flehte der Mann. „Wer immer du auch sein magst, vergiss uns nicht!“
Jenseits der Zeltreihen erstreckte sich ein schmaler Streifen Land, der die Grenze zum Fieberlager bildete. Letzteres war im Grunde nicht mehr als eine Ansammlung von wackligen Unterschlupfen. Sie bestanden aus Holzpfosten, an denen Decken und Tücher befestigt worden waren. Überall lagen Tote, und jene, die sich um die Kranken kümmerten, sahen selbst aus wie lebende Tote. Am schlimmsten sah es hinter den armseligen Behausungen aus. Ein Junge hatte eine Leiche geschultert und Finnikin folgte ihm zu einer Grube. Männer. Frauen. Kinder. Jungen in seinem Alter, die nie bei einer Frau liegen würden, so wie er es an diesem Nachmittag getan hatte. Mädchen mit Haaren wie gesponnenes Gold oder dunklen Locken. Die hübschen Mädchen von Lumatere. Tot. Übereinandergeschichtet. Leichenhaufen aus Haut und Knochen. Der Junge ging nun schon zum zweiten Mal an Finnikin vorbei, und wieder trug er einen Toten, den er in die Grube warf. Er hatte kräftige, zupackende Hände. Hände eines guten Handwerkers. Hände, die etwas erschaffen konnten.
Aber hier war kein Ort, um etwas zu erschaffen. Hier konnten Hände nichts anderes tun, als Tote zu begraben.
Er ahnte ihre Anwesenheit, noch ehe er sie sah. Sie kam aus einer Hütte aus Decken und hielt einen Säugling auf dem Arm. Das Kind rührte sich nicht, und Finnikin wusste sofort, dass es tot war. Evanjalin hob den Kopf. Über die Totengrube hinweg trafen sich ihre Blicke.
Sieh nicht hin, ermahnte er sich. Lass nicht zu, dass du dich in diesen Augen verlierst.
Sie kam auf ihn zugestolpert und sah sich voller Verzweiflung um.
„Wonach suchst du, Evanjalin?“, fragte er.
„Die Mutter“, sagte sie mit versagender Stimme. „Sie starb gerade eben, das Kind an ihrer Brust.“
Er wollte sich umdrehen und weggehen. Zurück zu dem schlafenden Mädchen in der Taverne, das nichts von ihm wollte außer drei Kupfermünzen. Das ihn im kurzen Moment ihrer Vereinigung dieses andere Mädchen mit den großen, unergründlichen Augen von der Farbe des Nachthimmels vergessen ließ.
Evanjalin suchte weiter unter den Toten. Plötzlich hielt sie inne. Ihr Blick fiel auf eine Frau, die mit ausgestreckten Armen dalag. Evanjalin sah hinunter auf das kleine Kind in ihrem Arm, dann bückte sie sich, um in die Grube zu steigen. Und ehe er selbst wusste, was er tat, kletterte Finnikin in das Loch und ließ sich von ihr den Säugling herunterreichen. Er stieg über tote Menschen bis zu der Mutter, legte das Kind an ihre Brust und schlang ihren Arm um den kleinen Jungen.
Er spürte, wie ein Schluchzen in ihm aufstieg. Als Evanjalin die Hand ausstreckte und ihm
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