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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melina Marchetta
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aus der Grube half, konnte sie an seinem Gesicht ablesen, was er fühlte.
    „Weine nicht“, sagte sie heftig, obwohl ihre eigenen Augen überquollen. „Weine nicht, Finnikin. Denn wenn wir den Tränen einmal nachgeben, dann hört das Weinen niemals auf.“
    Er legte seine Stirn an die ihre, umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und fing ihre Tränen mit dem Finger auf. Ein verfluchtes Land, hatte Sir Topher gesagt. Ein verfluchtes Volk.
    Der Priesterkönig hatte sich sehr verändert seit den alten Zeiten in Lumatere, und Finnikin erkannte ihn kaum wieder. Als Kind hatte er den heiligen Mann bewundert. Sogar Lucian hielt ihn für eine Art Gott in seiner mit Gold gesäumten Robe und den kostbaren Fingerringen. Heute hingegen trug er einen abgewetzten braunen Mantel mit Kapuze. Sein Bart war sehr lang und die Füße steckten in Sandalen. Ein oder zwei Zehen fehlten und seine Hände zeigten Altersflecken. Nur die tiefen Lachfalten um seine Augenwinkel erinnerten an den Mann von einst. Der Priesterkönig hatte immer gerne gelacht.
    „Du bist ja immer noch da“, murmelte der Geweihte, als er Evanjalin sah. „Ich habe es dir gesagt. Das hier ist kein Ort für die Jungen und Gesunden.“
    „Ebenso wenig für alle anderen“, erwiderte sie sanft. „Ihr seid der Priesterkönig. Ihr müsst diese Menschen nach Hause führen.“
    Der Mann schüttelte den Kopf. „Ein Titel ohne jede Bedeutung außerhalb des Königreichs.“
    „Aber wenn wir nach Lumatere zurückgehe n …“
    „Junge, wenn dir etwas an ihrem Leben liegt, dann bring sie von hier weg“, sagte der Priesterkönig.
    Finnikin begriff, dass ihre Unterhaltung damit beendet war und der Priesterkönig sie fortschickte. Zu Evanjalin gewandt sagte er leise: „Es wird keine Rückkehr geben.“
    „Sieh sie dir an“, sagte sie aufgebracht. „Denkst du wirklich, dass ein Stück Land in einem fremden Königreich ihre Not beendet?“
    „Wie kannst du so etwas fragen, Evanjalin?“
    „Sag, was hat man mit den Neugeborenen in deinem Bergdorf gemacht, Finnikin?“, erwiderte sie, nahm seine Hände und bog seine Finger zu Fäusten. „Man hat die kleinen Hände fest um einen Stein aus dem Dorf gelegt und für mehrere Tage so belassen. Und genau so haben sie es im Tiefland gemacht. Erde von den Äckern in die kleinen Hände gedrückt. Schlick vom Fluss. Gras von den Bergen. Blätter aus dem Wald. So wurden die Kinder für immer an das Land gebunden.“ Sie blinzelte die Tränen weg. „Wir wollen kein zweites Lumatere. Wir wollen in unsere Heimat zurück. Bring uns nach Hause, Finnikin.“
    Zum Priesterkönig sagte sie: „Verehrungswürdiger Barakah, wenn Ihr uns begleitet, werden die Leute Euch folgen. Alle, die noch gesund genug sind. In Lumatere gibt es Heiler, di e …“
    „Die Heiler sind alle tot, Evanjalin“, sagte Finnikin zornig. „Die Waldbewohner, die Novizen der Sagrami, alle, die sich in irgendeiner Weise auf die Kunst des Heilens verstanden haben, sind tot. Ich war dort. Ich habe ihre Schreie auf dem Scheiterhaufen gehört. Selbst wenn es uns gelänge, nach Lumatere hineinzukommen, so erwartet uns dort nichts mehr. Verstehst du das denn nicht? Die einzige Hoffnung für unser Volk ist eine zweite Heimat in Belegonia.“
    „Warum fürchtest du dich vor der Rückkehr, Finnikin? Hast du nicht einen Eid geschworen, zusammen mit Balthasar Lumatere aus aller Not zu erretten?“
    „Sprichst du von Prinz Balthasar?“, fragte der Priesterkönig.
    „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Denn wenn er noch am Leben ist, dann ist er jetzt der König.“
    „Und? Ist er am Leben?“
    „Evanjalin träumt, dass es so ist“, spottete Finnikin. „Welches Ziel verfolgst du, Evanjalin?“, forderte er sie heraus. „Hast du vor, ihm zu gehören? Eine Gemeine aus dem Volk als Gemahlin eines Königs?“
    Sie sah ihn an mit Augen voller Zorn. „Vergiss nicht“, sagte sie, „dass unsere Königin eine Gemeine aus dem Volk war. Sie stammte aus den Bergen von Lumatere. Also wage es nicht, eine solche Verbindung zu schmähen.“
    „Seid still!“, sagte der Priesterkönig. Als beide schwiegen, fuhr er fort. „Du träumst von König Balthasar? Und du glaubst, das kann mich dazu verlocken, zusammen mit euch dieses gottverlassene Land zu durchqueren? Du glaubst, ein Traum allein treibt mich zurück in eine Heimat, auf der ein Fluch lastet?“
    „Nein, verehrungswürdiger Barakah. Ich bin sicher, man hat Euch schon oft gesagt, Balthasar sei am Leben, und jedes Mal hat

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