Wintermädchen
mir, wegen Mathe zu heulen, ist die Sache nicht wert.«
Jennifer wirft mir einen schnellen Stiefblick zu, schärfer als sonst, dann gießt sie sich noch ein Glas Wasser ein. »Hast du heute nicht einen Test geschrieben?«
Ich spieße die dünnste Kartoffelscheibe auf. »In Physik? Der Lehrer hat ihn verschoben. Keiner hat die Lichtgeschwindigkeit kapiert. Was macht die Migräne?«
»Es ist, als hätte man eine trampelnde Rinderherde im Kopf.«
»Aua«, sage ich.
Emma versucht, ein Rosenkohlröschen mit ihrer Gabel zu zerteilen, aber es springt ihr vom Teller und kommt über den Tisch auf mich zugekullert. Jennifer zuckt zusammen, als die Gabel kreischend über den Teller schrappt. Ich rolle den ausgebüxten Rosenkohl wieder zu Emma zurück, die ihn kichernd einfängt und sich mit dem Ärmel über die Augen fährt.
Jennifer greift hinüber, um Emma den Rosenkohl aus der Hand zu nehmen, wobei sie das Milchglas umstößt. Emma zuckt zusammen, als die Milch ihren Teller überflutet, dann die Tischdecke durchweicht und auf den neuen Teppich zu tropfen beginnt.
Das Telefon klingelt. Jennifer vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
Dad steht auf. »Lass den AB rangehen«, sagt er. »Ich mach die Schweinerei hier weg.«
Jennifer atmet tief durch und geht Richtung Küche. »Ich hasse Leute, die erst mal warten, wer anruft. Ich geh schon ran.«
Dad wischt die Pfütze auf, klopft Emma auf den Rücken und sagt, es sei ja nur ein Glas Milch. Ich fege mein Brötchen und die Hälfte vom Fleisch in die Serviette, falte sie zusammen und lege sie mir auf den Schoß.
Jennifer kommt mit einem Mund zurück, der an einen Knoten erinnert, und hält Dad das Telefon hin. »Sie.«
Jennifer war nicht der Grund für die Scheidung meiner Eltern. Der Grund hieß Amber und davor Whitney und davor Jill und all die anderen. Als Mom ihn schließlich rauswarf, ging Dad zu einer anderen Bank, um ein neues Girokonto zu eröffnen. Jennifer arbeitete dort. Er war so verknallt, dass er eine Woche lang jeden Tag wieder dort hinging und sich dusselige Fragen über Hypotheken und Altersvorsorge ausdachte. Die beiden waren bereits verheiratet, bevor ich mich an die Tatsache gewöhnt hatte, dass meine Eltern sich wirklich hatten scheiden lassen.
Dad greift nach dem Telefon. »Hallo? Sekunde ma l … Chloe, ich höre dich gu t …«
Jennifer runzelt die Stirn und schüttelt den Kopf.
Dad versteht den Wink. »Wir essen gerade«, sagt er, während er hinausgeht und das Telefon ein paar Zentimeter von seinem Ohr weghält. »Ja, wir alle zusammen. Sie kommt gut damit klar.«
Als er den Flur entlangläuft, hört die Musik auf. Der Player klickt zweimal kurz hintereinander und wechselt die CD : Tschaikowsky, Schwanensee . Und Jennifer sagt Emma, sie soll sich die Käsesoße vom Gesicht wischen.
019.00
Eine halbe Stunde später öffnet Dad die Haustür und lässt Mom herein. Ihre Stimme in der Diele fesselt mich wie mit Dornenranken an meinen Stuhl. Zum letzten Mal habe ich sie am 31. August gesehen, am Tag, an dem ich achtzehn wurde.
Sie darf mich nicht so sehen stark/leer/stark.
Die Trennung von meiner Mutter ist eine Geschichte, die schon Millionen Mal zuvor erzählt wurde: Ein Mädchen kommt zur Welt, lernt sprechen und laufen, spricht Wörter falsch aus und fällt hin. Immer und immer wieder. Mädchen vergisst zu essen, kommt mit der Pubertät nicht klar, Mutter wäscht ihre Hände in Unschuld, schrubbt sie mit Desinfektionsmittel und einer Bürste volle drei Minuten lang und zieht sich dann die Handschuhe über, ehe sie das Mädchen den Experten übergibt mit der Aufforderung, nach Gutdünken zu experimentieren. Irgendwann entlässt man es wieder, Mädchen rebelliert.
Mom betritt das Esszimmer und im nächsten Moment ist Jennifer – puff! – verschwunden. Für sie ist es ein Verstoß gegen die Naturgesetze, sich im selben Zimmer aufzuhalten wie die erste Ehefrau.
»Nächtliche Hausbesuche?«, fragt Dad.
Mom beachtet ihn gar nicht und kommt auf mich zu. Sie küsst mich auf die Wange und weicht dann wieder zurück, um mich mit ihrem Röntgen/ MRT / CT -Blick zu mustern. »Wie fühlst du dich?«
»Super«, sage ich.
»Ich hab dich vermisst.« Sie küsst mich noch mal, mit kühlen, rissigen Lippen. Als sie auf Jennifers Stuhl Platz nimmt, zuckt sie zusammen. Bei Wetterumschwüngen hat sie immer Schmerzen in den Knien.
»Müde siehst du aus«, sagt sie.
»Das sagst ausgerechnet du«, erwidere ich.
Dr . Chloe Marrigan trägt ihre Müdigkeit
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