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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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wie eine Rüstung. Um die Beste zu sein, muss man jederzeit alles geben und noch etwas mehr: Hundert-Stunden-Woche, erdrückende Patientenzahlen, Wunder vollbringen, wie andere Leute Burger braten. Aber heute Abend sieht sie noch schlechter aus als sonst. Ich kann mich nicht erinnern, diese Falten um ihren Mund schon mal gesehen zu haben. Ihr maisgelbes Haar ist zu einem Zopf gebändigt, aber ein paar einzelne Silbersträhnen blitzen im Kerzenschein auf. Ihre Gesichtshaut war früher straff gespannt wie eine Trommel. Jetzt hängt sie am Hals ein wenig herunter.
    Dad versucht es wieder mit Small Talk. »War es ein Notfall?«
    Sie nickt. »Fünffacher Bypass. Der Kerl war in einem furchtbaren Zustand.«
    »Kommt er durch?«, erkundigt sich Dad.
    Sie legt ihren Piepser neben Jennifers benutzte Gabel. »Eher unwahrscheinlich.« Sie mustert die drei übrig gebliebenen Truthahnhäppchen auf meinem Teller und die Brotkrümel, die ich daneben verteilt habe. »Lia sieht blass aus. Hat sie gegessen?«
    »Natürlich«, sagt Dad.
    Sie hat nur sieben Sätze gebraucht, um mir auf die Nerven zu gehen. Das ist olympiareif. Ich klappe den Mund zu, stehe auf, nehme meinen Teller und den meines Vaters und verlasse den Raum.
    Jennifer und Emma sitzen am Küchentisch, zwischen sich einen Stapel Lernkarten zum Dividieren, damit das Abfragen weitergehen kann. Ich belade die Spülmaschine so langsam wie möglich und verrate Emma die Lösungen, indem ich hinter Jennifers Rücken Zahlen in die Luft male.
    Dad ruft mich aus dem Esszimmer. »Lia, komm bitte wieder herein!«
    »Viel Glück«, murmelt Jennifer, als ich hinausgehe.
    »Danke.«
    Ich lege Emmas Besteck auf den Teller, aber Dad sagt: »Lass das Geschirr, wir müssen reden.«
    Reden = brüllen + schimpfen + streiten + fordern.
    Dr . Marrigan schiebt die Ärmel ihres grünen Seidenrollkragenpullovers nach oben. Ihre Fingernägel sind kurz und unlackiert, die magischen Finger, die an der Hand sitzen, die mit dem Unterarm verbunden ist, der mit stählernen Muskeln und Sehnen zu den Schultern führt, zum Hals, zum hyperaktiven Gehirn. Ihre Fingerspitzen trommeln auf den Tisch. »Setz dich bitte«, sagt sie.
    Ich setze mich.
    Dad: Deine Mutter ist besorgt.
    Mom: Mehr als besorgt.
    Lia: Warum?
    Dad: Ich hab ihr erzählt, dass bei dir alles in Ordnung ist, seit wir’s erfahren haben.
    Lia: Dad hat Recht.
    Mom, deren Rücken nicht die Lehne berührt: Ich befürchte, dass Cassies Tod bei dir etwas auslösen könnte. Aus der Fachliteratur geht hervo r …
    Lia: Ich bin keine Laborratte.
    Mom betrachtet eingehend den leeren Bildschirm ihres Piepsers und hofft, dass er Alarm schlägt.
    Lia: Wir hatten schon seit Monaten keinen Kontakt mehr.
    Mom: Ihr wart neun Jahre lang die besten Freundinnen. Das ist nicht einfach so zu Ende, nur weil man ein paar Monate nicht miteinander redet.
    Lia starrt einen Fleck auf der Tischdecke an.
    Dad: Weißt du, wie sie gestorben ist?
    Mom, die sich ein Brötchen aus dem Korb nimmt: Cindy meldet sich, wenn der Autopsiebericht vorliegt. Ich hab angeboten, ihn mit ihr zu besprechen.
    Dad: Ich wette, es kommt raus, dass Drogen mit im Spiel waren.

Mom: Vielleicht, aber darum geht es nicht. Es geht um Lia.
    Emma kommt herein, um Gute Nacht zu sagen, ihre Augen sind verquollen. Dad küsst sie; Dr . Marrigan schenkt ihr ein klinisches Lächeln. Ich ziehe Emma dicht an mich heran und flüstere ihr zu, dass das schriftliche Teilen ein blöder Kackarsch ist. Sie kichert und drückt mich ganz fest, dann rennt sie nach oben, um ihr Bad zu nehmen. Jennifer hat mir und Dr . Marrigan den Rücken zugewandt und fragt ihren Ehemann nach irgendwelchen albernen Dingen wie der Müllabfuhr morgen und seinen Socken im Wäschetrockner, unwichtiger Haushaltskram, der Ehefrau-Nummer-Eins daran erinnern soll, wer hier den Ring mit dem Diamanten trägt.
    Ich fege die Krümel von der Tischdecke in meine Hand. An Drogen ist Cassie bestimmt nicht gestorben, es sei denn, es waren ein paar Packungen Schmerztabletten. Oder sie hat Wodka getrunken, bis sie ins Koma fiel. Oder sie hat zu tief geritzt. Oder vielleicht hat ein anderer sie umgebracht, irgendein mieser Typ, der sie verfolgte, ihr das Portmonee klaute und ihr Konto leer geräumt hat.
    Nein, das hätte sicher in der Zeitung gestanden.
    Ich hätte Elijah fragen sollen, was er gesehen hat, was die Polizei tatsächlich gesagt hat. Ich hätte ihm meinen Namen sagen sollen. Oder besser doch nicht. Eigentlich weiß ich ja gar nichts über ihn.

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