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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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Stunde später, ohne sich die Mühe zu machen heraufzukommen, um Gute Nacht zu wünschen oder zur Kenntnis zu nehmen, dass ich die meisten meiner Umzugskartons noch nicht ausgepackt habe und was für eine gute Fastschwester ich sein kann. Mit einem gedämpften Wums!, dessen Druckwelle sämtliche Fenster erzittern lässt, fällt die Haustür zu. Professor Overbrook legt den Riegel vor und schaltet die Alarmanlage ein. Ich knipse die Prinzessinnenlampe neben dem Bett aus. Emma atmet durch den weit geöffneten Mund.
    Geister trauen sich hier nicht herein. Mit dem Kopf auf einem zerlumpten Elefanten sinke ich in den Schlaf.
    020.00
    »Wach schon auf, Lia!«, brüllt Emma mir ins Ohr. »Du kommst zu spät! Du kriegst bestimmt Ärger.«
    Ich liege unter Emmas gebatikter Steppdecke mit dem Kopf auf dem Elefanten. Ihr Zimmer riecht nach Wäschetrocknerlaken und Katzen.
    »Nicht wieder einschlafen!«
    »Welcher Tag ist heute?«, frage ich.
    »Das weißt du doch!«, sagt sie.
    Heute ist Totenwachenmittwoch.
    In Geschichte hören wir einen Vortrag über Genozid und kriegen zum Abschluss eine zehnminütige Diashow mit Bildern polnischer Kinder gezeigt, getötet von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Ein paar Mädchen weinen, und die Typen, die sonst immer irgendwelche klugscheißerischen Bemerkungen loslassen, starren aus dem Fenster. Unser Lehrer in Trigonometrie ist von den Ergebnissen unseres letzten Tests zutiefst, zutiefst enttäuscht. In Physik ist mal wieder Zeit für ein Nickerchen einen Film: Einführung in Kollision und Impulsübertragung. Mein Englischlehrer rastet aus, weil die Regierung neuerdings noch einen weiteren Test von uns verlangt, mit dem unsere Lesefähigkeit bewertet werden soll, weil wir schließlich bald aufs College kommen und dann vielleicht mal was lesen müssen oder so.
    Ich esse im Auto: Diätlimonade (0) + Salat (15) + acht Esslöffel Tomatensalsa (40) + hart gekochtes Eiweiß (16) = Mittagessen (71).
    ***
    Am Ende des Schultags, zwei Minuten bevor der Gong ertönt, um uns zu erlösen, werde ich über Lautsprecher zur Studienberaterin MsRostoff gerufen. Die meisten Mädchen aus dem Fußballteam sind ebenfalls da, außerdem Cassies Freunde aus der Theatergruppe und aus dem Musical. Mira, mit der ich in Spanisch bin, winkt mir zu, als ich hereinkomme; sie war früher mit Cassie und mir bei den Pfadfindern.
    Wir sind hier, um unsere Gefühle zu teilen und um über eine Gedenkfeier für Cassie zu sprechen, damit »ihr Geist weiterlebt«. Der Raum ist eiskalt.
    M s Rostoff hat Schachteln mit Papiertüchern auf dem runden Tisch verteilt, mit dekorativem Kätzchenaufdruck. Ein paar Zwei-Liter-Kartons Eistee vom Discounter und kleine Pappbecher sind hübsch um den Teller mit den Billig-Schoko-Vanille-Keksen arrangiert. M s Rostoff glaubt an die heilende Wirkung von Zwischenmahlzeiten. Sie mag mich lieber als alle anderen, weil ich so ein Wrack bin, dass ich in der Echtwelt zu einem echten Therapeuten gehen muss. Außerdem muss ich auf das College gehen, wo mein Vater unterrichtet, also brauchte sie nur zwei Minuten, um mich zu beraten.
    Die Theatermädchen besetzen das ramponierte Sofa mit dem Läufer davor. Das Fußballteam rollt Drehstühle aus dem Konferenzzimmer herbei. Ich nehme neben der Tür auf dem Boden Platz, den Rücken am Heizungsschacht.
    Während wir auf die Nachzügler warten, beschweren sich die Fußballerinnen, dass sie den Kraftraum nicht oft genug nutzen dürfen, und die Theatermädchen jammern über die neue Regisseurin, eine Primadonna, die unsere Schule mit dem Broadway zu verwechseln scheint. Ich beurteile mich selbst: Ich kann weder schauspielern noch Fußball spielen, und die meisten hier haben bessere Noten als ich. Aber ich bin das schlankste Mädchen hier, keine Frage.
    Es entsteht eine peinliche Gesprächspause, und es wird viel zu still im Raum. Jemand furzt leise. Die Heizung kommt so langsam in Gang.
    Ich habe keine Ahnung, wie die das anstellen. Wie man es schafft, jeden Morgen aufzuwachen, zu essen und sich vom Bus zu jenem Fließband zu schleppen, an dem die Lehrerroboter uns Fach A und Fach B darreichen. Wie sie es schaffen, jeden Test zu bestehen, den man uns vorlegt. Unsere Eltern halten eine Liste mit Zutaten für uns bereit und ermahnen uns, eine gesunde Auswahl zu treffen: eine Sportart, zwei Vereine, ein künstlerisches Projekt, Gemeindearbeit, keine Noten schlechter als Zwei, denn hier ist wirklich niemand Mittelmaß, nicht bei uns. Es ist ein Tanz mit

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