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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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sich hervor, mit weit gespreizten Fingern. Ich gehe schnell weiter, entziehe mich ihren klebrigen Schatten. Als ich an einer Straßenlaterne vorbeigehe, brennt die Birne durch und es riecht nach verbranntem Zucker. Nach ihr. Ihr.
    Den Rest des Weges zur Totenwache renne ich, den eisernen Haken, die sie nach mir auswirft, immer einen Schritt voraus.
    022.00
    Eine Schlange mit Menschen windet sich aus dem Hauptportal der Kirche die Treppe hinunter bis zum Bürgersteig. Sie alle warten darauf, den leeren Leichnam anzustarren. Düstere Orgelakkorde stehlen sich in die Nacht hinaus, verwandeln unsere Schuhe in Betonklötze und machen die Gesichter lang, bis wir aussehen wie Bäume mit schwarzen, schlaff herabhängenden Blättern.
    Jeder ist schon mal hier gewesen. In der fünften Klasse wegen Jimmy Myers, Leukämie. In der achten starben Madison Ellerson und ihre Eltern bei einer Massenkarambolage während eines Schneesturm s. Letztes Jahr war es ein Typ aus der Tennismannschaft, einer, der es bis in die Landesauswahl geschafft hatte. Hatte sich nicht angeschnallt, keine Airbags. Als sein Auto auf den Laster knallte, brach er durch die Windschutzscheibe und flog in hohem Bogen durch die Luft, ehe er landete, aufgespießt von den Zweigen einer Kiefer. Die Schlange seiner Totenwache reichte um den ganzen Block.
    Als ich durchs Hauptportal eintrete, schlägt mir das Gewisper der Leute entgegen. Alle reden, wollen aber nicht gehört werden. Eltern knöpfen ihre Mäntel auf und hängen sie sich unbeholfen über den Arm. Auf den Wangen der Jungen erscheinen Schweißperlen, während sie an der Wand lehnen, die Hände in den Hosentaschen, die Krawatten gelockert. Die Mädchen staksen schwankend auf ihren höchsten Stöckelschuhen einher und danken Gott, dass sie es nicht sind, die da vorne in der hübschen Kiste liegen.
    Ich lasse meine Jacke an, den Reißverschluss zugezogen. Zum ersten Mal seit Wochen ist mir fast warm. In den dunklen Fenstern flackern künstliche Kerzen mit orangefarbenen Glühbirnen. Die Schlange schiebt sich in gleichmäßigem Rhythmus nach vorn, als würden wir für ein Konzert oder ein Fußballspiel anstehen. Als die Fußballmannschaft am Sarg vorbeigeht, überreicht die Kapitänin Cassies Vater einen Ball, auf dem alle Spielerinnen unterschrieben haben. Er reicht ihn an einen Schwarzgekleideten weiter, der die Gabe zur Leiche in den Sarg hineinlegt, vorsichtig, damit sie nicht aufwacht.
    Es nennt sich zwar Totenwache, aber dass die Tote aufwacht, will niemand.
    Je näher ich dem Sarg komme, desto wärmer wird es. Braun geränderte Blütenblätter von Chrysanthemen fallen von den Kränzen herab, die auf Metallständern ruhen. Ich welke ebenfalls, und mein Kopf ist voller rostiger Nägel. Ich hätte keine Jeans anziehen sollen. Idiot.
    Zwischen mir und dem Typ vor mir klafft eine Lücke, groß genug für vier Leute. Eine Dame zischt mir von hinten ins Ohr: »Geh schon weiter!«
    Die Organistin hört plötzlich auf zu spielen. Leute halten mitten im Gemurmel inne. Sie greift nach oben, und ein ganzer Stapel Bücher kracht zu Boden, hallt donnernd über den Marmor wie ein Schuss. Manche Leute fahren erschrocken in die Höhe.
    Nun kann ich das Sargende sehen. Der Fußball ruht neben einem gefalteten schwarzen T-Shirt von der Theatergruppe. Cassies Füße verbergen sich unter einem weißen Tuch aus Samt, die Zehen stehen gerade nach oben. Hoffentlich hat man ihr warme Pantoffeln angezogen und bequeme Socken. Und ich hoffe, dass sie ihr ihren Zehenring gelassen haben.
    Die Musik setzt wieder ein, ein langer, vibrierender Mollakkord.
    Der Kerl vor mir geht zu Cassies Eltern hinüber. Ihre Mutter schluchzt, und er legt seinen Arm um sie. Es ist Cassies Onkel, ein lustiger Typ, der uns Wasserskifahren beigebracht hat. Auch er weint und wimmert. In dieser ganzen heißen, überfüllten Welkeblütenblätterkirche sind die beiden die Einzigen, die sich trauen, das zu sagen und zu tun, woran jeder hier denkt.
    Ich bin dran mit Starren. Bin an der Reihe, die Tote zu vergewaltigen.
    Dornröschen trägt ein himmelblaues Kleid mit hochgeschlossenem Kragen und langen Ärmeln. Ihr Haar sieht aus wie die zu lang gekämmte Perücke einer Puppe, stumpfgelb, mit ein paar durchscheinenden blassroten Strähnen als Farbakzente. Sie trägt weder Ohrringe noch ihre Halskette aus Silberglöckchen, aber ihren Schulring hat man ihr auf den Finger gesteckt. Das Nasenpiercing und die Aknenarben verbergen sich unter dem Make-up, das man ihr

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