Wintermädchen
haste die zwei Häuserblocks entlang bis zur Kirche, den Kopf gesenkt, die Haare im Gesicht. Vor einer Stunde ist die Sonne untergegangen. Kalter Wind bläst mir entgegen, darin der verbrannte Geruch von Herbstfeuer, dessen Flammen große Haufen von Blättern und anderen toten Dingen verschlingen. Rot-grüner Weihnachtsschmuck hängt an den Laternen und in allen Geschäften.
Ich spüre, wie die Schatten aus der Dunkelheit gekrochen kommen, um mich zu holen.
Als ich das letzte Mal eingesperrt war, ließ mich der Krankenhauspsychiater einen lebensgroßen Umriss meines Körpers zeichnen. Ich wählte einen dicken Wachsmalstift in der Farbe von Elefantenhaut oder einem verregneten Bürgersteig.
Dann entrollte er das Papier auf dem Boden, dünnes Packpapier, das zerknitterte, als ich mich draufkniete. Ich wollte meine Schenkel auf seinen Teppich malen, jeden so groß wie ein Sofa. Die Speckrollen an meinem Hintern und am Bauch würden über den Boden wabbeln und die Wände hochklatschen, meine Titten groß wie Wasserbälle, meine Arme wie zwei Rollen Fertigpizzateig aus der Kühltheke, der schon aus der Packung quillt.
Der Arzt wäre entsetzt gewesen. All seine Arbeit dahin, verloren in einer Endloslinie aus popelgrauem Wachsmalstift. Er hätte meine Eltern angerufen und es hätte weitere Beratungsgespräche gegeben (mit tickender Uhr, rotierendem Zähler und einer immer länger werdenden Rechnung). Dann wären meine Medikamente wieder mal umgestellt worden – eine Pille, die mein Selbstwertgefühl steigert, eine andere, um meine Verrücktheit zu minimieren.
Also malte ich eine rundliche Version von mir, einen Bruchteil meiner tatsächlichen Maße, Finger und Zehen vollzählig, Steine im Bauch, hübsche Ohrringe, Pferdeschwanz.
Er zog ein weiteres langes Papierstück von der Rolle, wo ich mich drauflegen sollte, damit er meine Umrisse in Lebensgröße nachzeichnen konnte. Der Wachsmalstift drückte sich eng an meinen Körper und ließ mich erzittern. An meine Innenschenkel wagte der Arzt sich nicht heran. Und über die Größe meiner inneren Organe stellte er keine Vermutungen an.
Ich nahm mir eine Zeitschrift vom Tisch, während er die Zeichnungen mit Klebeband an der Wand befestigte. Es war eine Köderzeitschrift, strategisch platziert, um Funken in die Luft zu schießen und Feuer zu entfachen, um die Verrücktheit seiner Patentrezepte Patienten einfach wegzubrennen.
In dieser Zeitschrift waren sogar die Hässlichen schön.
»Schau dir das mal an«, sagte er. »Was für Unterschiede fallen dir auf, Lia?«
Ehrlich? Beides waren scheußliche Wachsgeister auf Rollenpapier. Ich wusste, was er hören wollte. Er hielt es nicht aus, dass ich krank war. Niemand kann das. Alle wollen immer nur hören, dass du auf dem Weg der Besserung bist, gesund wirst, alles innerhalb von einem Tag. Wenn man in seiner Krankheit eingesperrt ist, soll man aufhören, ihre Zeit zu verschwenden und einfach nur sterben.
»Lia?«, wiederholte er.
Die Dollars klickerten durch.
Ich sagte meinen Text auf: »Das Bild, das ich gemalt habe, ist aufgebläht und unrealistisch. Ich glaube, ich muss noch ein bisschen mehr an meiner Selbstwahrnehmung arbeiten.«
Er lächelte.
Mir war klar, dass meine Augen schon seit Längerem nicht mehr funktionierten. Aber an diesem Tag begann ich mir ernsthaft Sorgen zu machen, dass die Fachleute vielleicht genauso blind waren.
Vor dem Blumenladen bleibe ich stehen. Oben in der zweiten Etage, in meinem alten Ballettstudio, brennt Licht. Ich habe Ewigkeiten damit verbracht, mich dort in den Spiegeln anzustarren. Ich beugte die Gliedmaßen, machte Sprünge, verneigte mich und schwebte dahin. Die Zuckerfee aus dem Nussknacker, eine Jungfrau, eine Puppe. Nach den Proben klaute ich meiner Mutter immer ihr Anatomiebuch, stellte mich nackt ins Bad und tastete die Muskeln ab, die unter meiner Haut schwammen, suchte nach den Stellen, an denen sie in dünne, starke Sehnen übergingen, die an den Knochen befestigt waren.
Dem Spiegelbildmädchen in der Schaufensterscheibe wachsen Weihnachtssterne aus Bauch und Kopf. Es hat die Form einer Bratwurst, die auf zwei Besenstielen steht, Zweige als Arme, das Gesicht mit einem Radiergummi verwischt. Ich weiß, dass ich das bin, aber ich bin es doch nicht, nicht wirklich. Ich weiß gar nicht, wie ich aussehe. Ich kann mich nicht erinnern.
Auf den roten Blättern der Weihnachtssterne sitzen Unmengen grauer Gesichter, Geister, die von mir kosten wollen. Ihre Hände schlängeln
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