Wintermädchen
komplizierter Choreografie und wechselndem Tempo.
Ich bin das Mädchen, das über die Tanzfläche stolpert und nicht zum Ausgang findet. Alle Augen sind auf mich gerichtet.
M s Rostoff wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die zeigt die Zeit genauer an als die Uhr an der Wand. »Also jetzt aber, Mädchen.«
Ein Theatermädchen hebt die Hand – Body-Mass-Inde x 20, vielleicht auch 19,5. Ihre Turnschuhe sind bemalt, der eine mit einem ungeheuer winzigen Schachbrettmuster aus tausend Farben, der andere abwechselnd mit gelben Smileys und schwarzen Totenköpfen. »M s Rostoff? Können wir eine Schweigeminute einlegen?«
M s Rostoffs Hirn arbeitet. Werden unsere Eltern bei der Schulbehörde Terror machen, wenn sie in ihrem Büro ein religiöses Ritual zulässt? Oder werden sie Terror machen, wenn sie uns den freien Ausdruck religiöser Gefühle verwehrt?
»Wollen das alle?«
Wir nicken und lassen die an unseren Köpfen befestigten Fäden zucken.
»Also gut.« Wieder ein Blick auf ihre Uhr. »Eine Schweigeminute für Cassie.«
Theater und Fußball neigen ihr Haupt. Ich ebenfalls. Anscheinend soll ich beten. Mit Schweigeminuten kenne ich mich nicht aus. Sie sind s o … schweigsam. Leer.
Jemand schnieft und zieht sich ein Tuch aus der Schachtel. Ich blinzele durch meine Wimpern hindurch. Miras Augen sind fest geschlossen und ihre Lippen bewegen sich. Ein Mädchen, das ich nie zuvor gesehen habe, wischt sich mit einem schmutzigen Taschentuch aus ihrer Hosentasche über das Gesicht. Eine der Fußballerinnen zückt ihr Handy, um eine SMS zu lesen. M s Rostoff reibt ihre künstlichen Fingernägel gegen ihren Daumen, dann sieht sie wieder auf die Armbanduhr.
»Danke euch allen.«
Sie verkündet die Regeln setzt den Rahmen für unsere Diskussion. Wir werden nicht darüber sprechen, wie Cassie gestorben ist oder warum oder wo oder wer in diesem Raum etwas hätte tun können, um sie auf- oder wenigstens hinzuhalten. Wir sind hier, um zu feiern, dass sie gelebt hat.
Dreiunddreißig Anrufe.
M s Rostoff hat sich bereits um eine Gedenkseite im Jahrbuch gekümmert, und sie hat einen Nachruf für die Schülerzeitung verfasst.
Die Fußballerinnen erklären, dass sie den Rest der Saison Cassie widmen wollen, beide Wochen. Die Theatermädchen wollen ihr einen Moment kurz vor Beginn des Musicals schenken, wenn das Licht ausgeht und alles dunkel ist. Dann soll eine einzelne Rose aufleuchten, die in der Mitte der Bühne in einer Vase steht, während der Chor Amazing Grace singt, und danach wird der Star des Stücks ein Gedicht über die Tragik des frühen Todes vortragen.
Die Idee wird auf die Rose zurechtgestutzt, die einen Moment lang im Scheinwerferlicht zu sehen sein soll, sowie auf eine Erwähnung im Programmheft.
»Was ist mit dir, Lia?« Mira beugt sich vor, um mich besser sehen zu können. »Möchtest du irgendwas Besonderes machen? Ihr beide wart doch sehr gut befreundet.«
Wart.
»Das sind alles sehr gute Ideen«, sagen meine Lippen. »Aber ich finde, dass M s Rostoff mit Cassies Eltern reden sollte, um sie nach ihrer Meinung zu fragen.«
Ablenkung gelungen. Die Studienberaterin spricht über das Schicksal der Familie und darüber, wie man sie unterstützen könnte, und wie man füreinander da sein muss und dass wir immer zu ihr kommen können und immer genügend Taschentücher für uns bereitliegen werden. Ehe wir gehen, erinnert die Mannschaftskapitänin ihr Team, heute Abend im Trikot zur Totenwache zu erscheinen. Und Mira verkündet, dass die Leute von der Theatergruppe alle Schwarz tragen werden.
021.00
Ich trage eine marineblaue Strumpfhose unter einer fleckigen Baggyjeans, ein langes Unterhemd, einen Rollkragenpullover, einen Kapuzenpulli, den ich aus dem Schrank meines Vaters geklaut habe, und in der Jacke eine Überraschung für Cassie, tief vergraben in der linken Tasche. Und Fäustlinge. Nicht unbedingt das, was man zu einer Totenwache anzieht.
Ich sage Jennifer, dass ich zum Abendessen nicht zu Hause sein werde, weil ich in der Bibliothek mithilfe von dämlichen Primärquellen recherchieren muss, was bedeutet, dass ich ein echtes Buch benutzen muss, das wahrscheinlich von hunderttausend Unbekannten berührt worden ist und an dem Gott weiß welche Virenmutationen kleben.
Es ist so eine miserable Lüge, dass sie mich bestimmt durchschaut, aber Jennifer steckt bis zu den Ellbogen in Pappmaschee und hilft Emma gerade dabei, einen griechischen Tempel zu bauen.
Mein Wagen parkt vor der Bibliothek. Ich
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