Wintermädchen
aufs Gesicht gekleistert hat. Der falsche Farbton.
Ich möchte ihr das Kleid ausziehen und nachsehen, ob man den Bauch aufgetrennt hat. Ich möchte reingucken. Sie würde dasselbe wollen, denn genau darüber haben wir die ganze Zeit geredet. Über die verborgenen Viecher mit den kratzenden Flügeln und Fühlern, die uns stachen und dafür sorgten, dass wir ins Badezimmer stolperten – Cassie zum Klo, um alles loszuwerden, und ich zum Spiegel, damit das Mädchen auf der anderen Seite mich stark machte und hart wie Stahl.
Sie hätten ihr ihre Häkelnadel in den Sarg legen sollen und Garn, damit sie in der Ewigkeit auch was zu tun hat. Ein paar Bücher von Gaiman, Tolkien und Butler, einige Klatschblätter, Kaugummi – Peppermint, nicht Spearmin t –, ihre Abzeichen vom Schwimmverein und den Pfadfinderinnen, die Plakate der Theaterstücke, bei denen sie mitwirkte. Bestimmt würde sie sich auch über eine Schachtel Cornflakes freuen, als Reiseproviant.
Das Schluchzen ihrer Mutter übertönt die Orgel.
Ich greife in meine Jackentasche und hole die kleine Scheibe aus grünem Meerglas hervor, geboren im Herzen eines Vulkans, mit der Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen. Als wir neun waren, habe ich sie aus Cassies Zimmer gestohlen, aber was ich auch tat, es funktionierte einfach nicht, ganz egal bei welcher Sternenkonstellation.
Ich schiebe ihr das magische Stück Glas in die erfrorene Hand.
Cassies Finger schließen sich darum.
Mein Herz beginnt zu stolpern.
Sie drückt die grüne Scheibe ganz fest, dann blinzelt sie – einmal, zweima l –, reißt die Augen weit auf und blickt mich direkt an. Sie hebt eine Hand und betastet ihr Haar, das ihr aus dem Kopf sprießt wie Pusteblumenflaum. Ein paar Haarsträhnen schlängeln sich bis zu den brennenden Kerzen ans Kopfende des Sarges und brennen ab wie Wunderkerzen.
Ich kriege keine Luft.
Cassie setzt sich langsam auf, hält sich das magische Stück Glas ans Auge, schaut hindurch und lacht, ein tiefes, schmutziges Lachen, das sonst nur um zwei oder drei Uhr morgens von ihr zu hören war. Sie steckt sich den Glastaler in den Mund und schluckt ihn hinunter, dann wischt sie sich mit der Hand über den Mund. Flecken aus Wachs und Blut erscheinen an ihren Fingern.
Sie runzelt die Stirn und öffnet den Mun d …
… nein. Sie sitzt nicht dort. Sie ist gar nicht da. Kein Blut. Keine Wolke aus Puppenhaar, die im Kerzenschein verglüht.
Ich kneife die Augen zusammen. Sie liegt gar nicht mehr im Sarg. Der Fußball ist Richtung Kopfende gerollt, weil ihre Füße ihn nicht mehr abstützen.
Wieder kneife ich die Augen zusammen.
Sie ist immer noch weg, das weiße Samttuch ist beiseitegeworfen, als ob sie den Wecker nicht gehört hat und nun wirklich verdammt spät dran ist. Ihr Vater ist schon mit dem Auto los, weshalb sie nun mit mir fahren muss. Ein etwas unheimlicher Gedanke.
Von oben ergießt sich ein Schwall Orgelmusik und überflutet die Kirche.
***
Die Leute in der Schlange hinter mir beginnen zu murmeln. Sie müssen irgendwohin und irgendwas erledigen, und in einer halben Stunde kommt die neue Folge, und außerdem sind alle viel zu höflich, um zu merken, dass der Sarg leer ist. Der lustige Onkel knöpft sich den Mantel zu. Die Lücke vor Cassies Eltern wartet auf mich.
Eine Hand berührt mich an der Schulter, und irgendein Typ flüstert mir ins Ohr: »Das geht schon, na los. Ich bin direkt hinter dir.«
Ich stolpere mit gesenktem Blick zu ihrer Mutter hinüber. Mr s Parrish schlingt wortlos ihren Arm um mich und legt ihren Kopf an meine Schulter. Ich tätschele ihr den Rücken. M r Parrish schüttelt dem Typ hinter mir die Hand und sagt etwas, was ich nicht hören kann, weil Cassies Mutter so schwer ist, dass sie mich unter das hüfthohe Wasser im Altarraum und hinunter zum Marmorboden zieht. Sie möchte, dass wir unters Fundament sinken, in die warme, krabbelige Erde. Dort hat Cassie schon ein Plätzchen für uns reserviert und wir können uns alle drei zu kleinen Kellerasseln zusammenrollen und auf den Frühling warten.
Wieder berührt mich von hinten diese Hand. M r Parrish zieht uns aus der Erde und löst seine Frau von mir. Dann drückt er einen heftigen Kuss auf meine Stirn, aber ich weiß nichts zu sagen.
»Es tut uns so leid, was sie durchmachen«, höre ich diesen Elijah mit den rauchgrauen Augen sagen, der an der Hand hängt, die meine Hand hält. »Ich kann gar nicht sagen, wie sehr.«
Er zieht mich in den Menschenstrom, der nach draußen
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