Wintermädchen
Haare reicher Leute, die einer fremden Person gern etwas vorjammern.
»Du hättest heute nicht herkommen müssen«, sagt sie zum Schluss. »Du hättest den Therapietermin als Ausrede benutzen können, dem Unterricht fernzubleiben und machen können, wozu du Lust hast. Ich berichte deinen Eltern nicht, was hier vorfällt, es sei denn, du erlaubst es mir ausdrücklich. Sie würden also nichts davon erfahren, wenn du hier nicht auftauchst.«
»Und was wollen Sie damit sagen?«, frage ich.
»Du hast dich frei entschieden herzukommen.« Sie lässt die Knöchel ihrer rechten Hand knacken und wackelt mit den Fingern. »Also denke ich, dass du über das eine oder andere reden möchtest.«
Ja, ich würde Ihnen gern erzählen, dass Cassies Stimme auf dem Handy in meiner Handtasche ist und dass sie mich verfolgt, weil ich sie sterben ließ. Wenn ich es tue, werden Sie mir noch mehr Pillen geben. Wenn ich Ihnen erzähle, wie viel ich heute gegessen habe, werden Sie Alarm schlagen und mich zurück ins Gefängnis schicken. Ich lege sämtliche Haare auf der Armlehne des Sessels ab. »Ich denke die ganze Zeit, ich könnte meine Haut aufreißen wie einen Reißverschluss und einfach aus diesem Körper steigen. Dann würde ich sehen, wer ich wirklich bin.«
Sie nickt langsam. »Wie, denkst du, würdest du aussehen?«
»Vor allem kleiner.«
Die letzten acht Minuten verstreichen in Stille, bis der Kurzzeitwecker auf ihrem Schreibtisch piept.
»Und kann ich zur Beerdigung?«, frage ich.
Sie angelt nach ihren Schuhen. »Ist dir klar, warum du zur Beerdigung willst?«
Um sicherzugehen, dass man sie einbetoniert, damit sie mich in Ruhe lässt. »Ich habe das Gefühl, irgendwie damit abschließen zu müssen.«
»Und die Beerdigung wird das ermöglichen?«
Ja, das habe ich doch gerade gesagt. »Ich habe mir das gründlich überlegt.«
Die Uhr tickt noch zwei Extraminuten lang. Ich rolle die Haare der Unbekannten zu einem Ball zusammen.
»Das ist eine gute Idee.« Sie streift sich die Schuhe über und steht auf. »Aber lass dich von deinem Vater oder deiner Mutter begleiten. Niemand sollte allein auf eine Beerdigung gehen.«
Auf dem Nachhauseweg krame ich das Handy aus meiner Handtasche, entferne die Speicherkarte und platziere sie kurz hinter dem Bahnübergang am Einkaufszentrum auf der eisernen Schiene. Das Telefon selbst lege ich unter den linken Hinterreifen und fahre dreiunddreißig Mal drüber, immer vor und zurück. Die Überreste werfe ich in den Müllcontainer einer Baustelle.
028.00
Elijah öffnet die Tür des Zimmer s 115 mit vorgelegter Kette und quetscht sein Gesicht durch den schmalen Spalt. Seine Augen sind vom Schlaf verquollen und blicken verwirrt.
»Emma?«, fragt er. »Was ist denn los?«
Ich weiß noch nicht, wie ich ihm die Sache mit dem Namen erklären soll. »Ich hab dir Pizza mitgebracht. Eine Gratismahlzeit.«
Die Kette rasselt, und die Tür öffnet sich vollständig. »Wo ist der Haken?«
Das warme Mozzarellafett hat sich durch den Boden des Pizzakartons gesogen und läuft mir auf die Finger. Am liebsten würde ich sie ablecken Am liebsten würde ich die Schachtel wegwerfen, ehe sie mich infiziert.
»Es gibt keinen Haken.«
Er lehnt sich an den Türrahmen. »Es gibt immer einen Haken.«
»Als Dank für deine Hilfe neulich.«
»Was für eine Sorte ist es denn?«
»Mit Extrakäse und Wurst.«
Elijah lächelt. »Das kann ich nicht essen. Ich bin Vegetarier.«
»Glaub ich dir nicht.«
Am anderen Ende des Motels öffnet sich eine Tür, und ein Mann schreit irgendetwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Die Frau, die er anbrüllt, lacht wie ein Schakal aus einer Zeichentrickserie. Von der River Road sind kreischende Reifen zu hören und ein aufheulender Motor.
Elijah reibt sich übers Gesicht und tritt einen Schritt zurück. »Okay, meistens bin ich Vegetarier. Aber Pizzatarier bin ich auch. Also komm rein.«
Im Zimmer riecht es nach Zigaretten und Wäsche, die zu lange in der Maschine gelegen hat. Die einzige Lichtquelle ist eine kleine Lampe auf dem Tisch, daneben liegt ein Stapel Spiralblöcke, auf dem ein schmutziger Aschenbecher und ein Sixpack Bier thronen.
Er nimmt mir den Pizzakarton ab und legt ihn aufs Bett. Spielkarten sind über die ineinander verwickelten Decken verstreut und am Kopfende türmen sich schmale Kissen aufeinander. »Wie spät ist es?«, fragt er.
»Fast fünf.«
»Verdammt! Ich muss eingeschlafen sein. Charlie wollte doch, dass ich die Regale in Zimme r 204
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