Wintermädchen
mathematische Gleichungen sein, die ihrer logischen Lösung entgegenfiebern. Nancy Hustenbonbon ist keine Ärztin. Sie ist eine Buchhalterin.
»Ich frage mich, ob hier vielleicht zweierlei Konflikte nebeneinander bestehen.« Sie entledigt sich schwungvoll ihrer Schuhe und setzt sich im Schneidersitz hin. Die Falten in ihrem Gesicht verraten, dass sie schwer auf die Sechzig zugeht, aber durch Yogaunterricht ist ihr Körper so gelenkig geblieben wie der eines Mädchens. »Einerseits Verwirrung und Trauer über den Verlust einer Freundin, andererseits der Wunsch, deine Eltern auf Abstand zu halten.«
Sie wartet darauf, dass ich die Leere im Raum mit Worten fülle. Ich tue es nicht.
»Oder liege ich ganz und gar falsch«, fährt sie fort, »und nichts von alldem berührt dich auch nur im Geringsten?«
Regen rinnt die Fensterscheiben hinab.
Nach meinem ersten Aufenthalt im Gefängnis in der Klink begannen meine Sitzungen hier, weil Dr . N . Parker eine geniale Betrügerin eine Spezialistin für durchgeknallte Teenager für Heranwachsende mit Problemen ist. Bei meinen ersten Besuchen machte ich den Mund auf und gab ihr einen Schlüssel, der ihr Zutritt zu meinem Kopf verschaffte. Gigantonormer Fehler. Sie rückte mit Laterne, Schutzhelm und ellenlangen Sicherungsseilen an, um meine Höhlen zu erkunden. Und in meinem Schädel hinterließ sie Minen, die erst Wochen später detonierten.
Ich sagte ihr, wie sehr es mich ankotzte, dass sie die Dinge in meinem Kopf ohne Erlaubnis umherschob. Sie versteckte Sprengsätze, sodass bei jedem simplen Gedanken wie Physik ist Zeitverschwendung oder Ich muss mein Handy aufladen oder Japanisch zu lernen kann doch nicht so schwer sein die immer gleiche, nervige Frage aus den Tiefen der Hölle emporschnellte: Warum denkst du das gerade, Lia?
Ich konnte mir selbst keine Frage mehr stellen – Warum bin ich bloß so müde ? –, ohne mit drei bis vier Antworten meiner Therapeutin bombardiert zu werden: Weil mein Zuckerspiegel zu niedrig ist oder Weil ich ein unbestimmtes Verlustgefühl empfinde oder Weil ich den Kontakt zur Realität verloren habe oder, immer wieder sehr beliebt, Weil ich einen an der Klatsche habe .
Einmal packte mich die Wut und ich riss die Klappe auf und erklärte ihr, sie sei eine erbärmliche Versagerin, die bestimmt weder Kinder noch Enkelkinder habe, und wenn doch, würden die sie bestimmt nie anrufen, und ihr Mann hätte sie wohl verlassen – oder ihre Freundin, wer wei ß –, und sogar ihre eigene Mutter hätte sie längst aufgegeben, weil in ihrer irrealen Welt keine lebendigen Menschen existierten, denn sie verbarrikadiere sich ja immer nur hier in diesem Zimmer mit Pseudobüchern und Ventilatorwind und verregneten Fenstern.
Nichts von alledem löste Wut in ihr aus. Ohne mit der Wimper zu zucken, meinte sie, ich solle in dieser Stimmung bleiben und weiterreden. Also schwieg ich.
Früher habe ich immer davon geträumt, ein Messer zur Therapiestunde mitzubringen und Geschnetzeltes aus ihr zu machen.
Zehn Minuten sind vergangen. Während die Couch nach und nach wärmer wird, sinke ich tiefer in die Polster. Das Leder knarzt.
»Welche Wörter gehen dir gerade durch den Kopf, Lia?«
Beschissen. Schwein. Hass.
»Ich würde sie gerne hören.«
Gefängnis. Sarg. Ritzen.
»Du musst daran arbeiten, gesund zu werden, Lia. Scheintot zu sein, hat wenig mit Leben zu tun.«
»Mein Gewicht ist in Ordnung. Ich kann Jennifers blödes Notizbuch mitbringen, wenn Sie möchten.«
»Es geht nicht um die Zahl auf der Waage. Darum ging es nie.«
Hunger. Tot.
Zwanzig Minuten rasen dahin. Ich wickele meine Finger in die Decke ein und wieder aus. Sie ist die Spinne Charlotte und ich Schweinchen Wilbur,
::Was für ein Mädchen!/Hoffnungslos!/Durchgedreht!::
und dieser gehäkelte rosarote Albtraum aus Polyester ist Charlottes Spinnennetz. Nein, sie ist doch nicht Charlotte, sondern Charlottes nervige Cousine Mildred, diese Dumpfbacke, der das Netz immer kaputtgeht. Wenn meine Eltern mich das Geld, das sie an diese Dame hier verschwenden, hätten investieren lassen, besäße ich inzwischen eine Eigentumswohnung.
Vierzig Minuten. Ich habe von mindestens sieben verschiedenen Personen Haare aus der Decke gezupft: ein langes schwarzes, ein schimmerndes weißes, ein feines blondes, ein gelocktes rotbraunes, ein braunes, das an der Wurzel weiß ist, und ein kurzes, das vielleicht zu einem Kerl gehört – oder zu einer Frau, die sich einen Dreck um ihr Aussehen schert. Alles
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